DZPhil 2019; 67(4): 539–571 Ekaterina Poljakova* Die Macht der Interpretation Zwischen Realismus und Antirealismus https://doi.org/10.1515/dzph-2019-0043 Abstract: The article treats the problem of interpretation in its respect to reality by example of Umberto Eco’s moderate ‚realistic‘ position and his criticism of Friedrich Nietzsche, the “father” of postmodernism. Here the strongest arguments on both sides are evaluated: Eco’s “negative realism” pointing out the impossibility of some interpretations and Nietzsche’s thinking out the absolute absence of a privileged position proceeding from which it would be possible to unequivocally identify what is real. The article argues that the crucial point why some interpretations may prove to be stronger or weaker is best described in terms of the concept of power. One however should avoid misconceptions, since power itself is interpretation which nevertheless allows for the gradation of reality, the mobility of its horizons, their shifting and even their potential availability. A much-disputed question of prehistoric times as well as that of death as a limit of interpretability is inter alia included in the analysis. Both classical anti-realistic positions, such as that of Wittgenstein, and the argumentation of contemporary advocates of realism, such as Quentin Meillassoux, are taken into consideration. Keywords: reality, power, realism, anti-realism, negative realism, interpretation, horizon, death, Umberto Eco, Friedrich Nietzsche Mit dem ihm eigenen Humor und Scharfsinn hat Friedrich Nietzsche sich einmal folgendermaßen über Immanuel Kant geäußert: Kant wollte auf eine ‚alle Welt‘ vor den Kopf stossende Art beweisen, dass ‚alle Welt‘ Recht habe: – das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für die Gelehrten und nicht für das Volk (FW 193, KSA 3, 504)1 1 Nietzsches Werke werden im Text, wie in der Nietzsche-Forschung üblich, nach der Standardausgabe und mit entsprechenden Abkürzungen zitiert: KSA – Nietzsche (1980); FW – Die fröhli*Kontakt: Ekaterina Poljakova, Universität Greifswald, Institut für Philosophie, Baderstraße 2, 17489 Greifswald; poljakovae@uni-greifswald.de 540   Ekaterina Poljakova Ob dies auf Kant wirklich zutrifft, sei hier dahingestellt. Jedenfalls passt diese Aussage auf viele, die sich Realisten nennen. Denn was „alle Welt“ glaubt, ist sicherlich eine mehr oder weniger grobe Korrespondenztheorie der Wahrheit: Es gibt mich und die Wirklichkeit ‚außer mir‘; und eine Aussage ist wahr, wenn sie damit übereinstimmt, was ‚wirklich‘ der Fall ist. Die Gelehrten mögen dazu viel Streitbares geschrieben haben. Trotzdem können auch sie, so das Argument, diese Vorstellung des gesunden Menschenverstandes nicht völlig ausklammern. Nun scheinen sie es nicht mehr zu wollen. Der Neue Realismus übernimmt den Kampf für eine ‚normale‘ Weltsicht, indem nicht nur die Realität der äußeren Wirklichkeit, sondern auch die Realität des Geistes (was auch immer dies heißen mag) radikal behauptet wird.2 Eine realistische Sichtweise wird heute als Widerlegung einer in der Philosophie vorherrschenden Position gesehen: Die „Müdigkeit gegenüber dem Postmodernismus“ ist hier das Leitmotiv,3 was natürlich Schwierigkeiten hervorruft, denn seine Argumentation ist vielfältig. Darum gibt es weitere Benennungen – konstruktivistisch, relativistisch und besonders: antirealistisch. Die letztere ist allerdings tautologisch: Der ‚Antirealist‘ wäre derjenige, der den ‚Realismus‘ nicht akzeptiert.4 Die Überzeugungen eines hypothetischen Antirealisten formuliert man dabei zusammenfassend als die These, dass alles „nur existiert, weil oder indem es verstanden wird“5 und, noch schärfer ausgedrückt, „dass nichts che Wissenschaft; MA – Menschliches, Allzumenschliches, NL – Nachlass; WL – Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. 2 Im Folgenden beschränke ich mich auf wenige Positionen in der umfangreichen Debatte um den Realismus. Sie ist genauso komplex, wie die Versionen von beiden antagonistischen Positionen vielfältig sind. Der ‚Neue Realismus‘ beginnt keinesfalls neu, sondern setzt eine lange Tradition der entsprechenden Diskussionen fort, die bereits im Mittelalter als Streit zwischen den Realisten und Nominalisten begonnen haben. Er erhebt jedoch den Anspruch, dies auf einer neuen, modernen Ebene zu tun. Aber auch dieser Anspruch ist keineswegs vollkommen neu. Vgl., um nur einige Diskussionsbeiträge im deutschsprachigen Raum zu erwähnen: Halbig/Suhm (2004); Forum für Philosophie Bad Homburg (1992). 3 Vgl. Ferraris (2015), 52; programmatisch ist der Untertitel seines Aufsatzes: „Vom Postmodernismus zum Realismus“. 4 Der Begriff wurde durch Michael Dummett geprägt (1969). Üblich sind weitere Differenzierungen, z. B. eines ontologischen, epistemischen oder semantischen, starken oder schwachen Antirealismus bzw. wissenschaftlichen, repräsentationalen oder Common-Sense-Realismus. Sinnvoll scheint mir jedoch nicht so sehr eine solche Klassifikation von realistischen oder antirealistischen Typen (der ‚Antirealismus‘ stellt ja gerade manche dieser Unterscheidungen in Frage), sondern die Unterscheidung der Argumentationsstrategien, z. B. in phänomenalistische, hermeneutische oder konstruktivistische Verfahren wie in: Demmerling (2004). 5 Gabriel (2015b), 172 (Hervorh. im Orig.). Die Macht der Interpretation   541 existiert hätte, hätten wir es nicht verstehen können“6. Nun wäre hier zuerst zu fragen: Wer vertritt überhaupt eine solche radikale Überzeugung? In diesem Kontext werden zu polemischen Zwecken immer wieder die gleichen Namen genannt: George Berkeley, Kant, Nietzsche, Jacques Derrida, Richard Rorty, Niklas Luhmann. Und es ist nicht nur die Frage, ob eine solche Unterstellung in irgendeiner Weise den genannten Autoren gerecht wird. Den Neuen Realisten geht es schließlich nicht um die Exegese von konkreten Texten. Die Frage ist, ob man eine solche Position, würde sie tatsächlich von jemandem vertreten, eine Überzeugung nennen kann. Wittgenstein hat einmal für sich vermerkt: „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht.“7 Das heißt, dass Philosophen nichts ‚glauben‘, keine ‚Meinungen‘ vertreten und nicht ‚der Überzeugung‘ sind – auch wenn man sie gern in Rubriken steckt und mit ihren Ansichten Lexika ausstattet. Warum kann ein solches Rubrizieren ihnen niemals gerecht werden? Weil es bei ihnen, soweit sie philosophisch arbeiten (im Alltagsleben kann es sehr wohl anders sein), nicht um Überzeugungen, sondern um Fragestellungen und Probleme geht. Wenn eine so kontraintuitive These wie die, dass es die Welt da draußen nicht gibt oder nur gibt, wenn sie wahrgenommen wird, oder dass es keine Tatsachen, sondern lediglich Interpretationen geben kann, tatsächlich vertreten wird, so geschieht dies – etwa im Fall Berkeleys oder Nietzsches  – nicht um der extravaganten Umkehrung eines Gemeinplatzes willen. Philosophisch relevant wird eine solche Ansicht erst dann und nur dann, wenn sie eine Antwort auf ein Problem darstellt. Aber auch dann sollte man als Philosoph bei einer Lösung nicht stehenbleiben, sondern auch sie in Frage stellen und weitere Einwände in Betracht ziehen. Nicht die Unmöglichkeit einer empirischen Überprüfung unterscheidet die philosophische Arbeit von jeder anderen wissenschaftlichen Tätigkeit,8 sondern eine konsequente Verweigerung, das Hinterfragen von eigenen Prämissen und Theorien abzubrechen, die extreme Aufmerksamkeit den Schwierigkeiten gegenüber, die mit jeder Lösung aufkommen, und der scharfe Blick für die „intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht“ (MA I, Vorrede 6, KSA 2, 20). Darum macht es wenig Sinn, einen Paradigmenwechsel in der Philosophie, eine neue Sichtweise, die den Postmodernismus endlich ablösen soll, zu behaupten, weil dieser seine Zeit gehabt habe. So ein Wechsel wird nicht geschehen, solange wir auf die Probleme, die die sogenannten postmodernen Denker zu ihren Thesen inspiriert haben, nicht ange- 6 Ebd., 177. 7 Wittgenstein (1984b), § 455. 8 Vgl. z. B. Vollmer (1992), X–XI. 542   Ekaterina Poljakova messen reagieren und sie in diesem Sinne überbieten. Dafür müssen wir jedoch zuallererst ihr Denken in aller Schärfe zur Kenntnis nehmen, sodass unsere Widerlegung nicht ins Leere läuft. Auf keinen Fall darf man die entscheidenden Argumente seiner Gegner überspringen oder vergröbern, um die eigene Position zu stärken – denn das wäre eine Stärke, die wenig überzeugt. Selbst die Fragen, um die es bei einer solchen Auseinandersetzung geht, würden dadurch verdunkelt, ohne dass eine befriedigende Lösung gefunden wäre. Im Folgenden möchte ich die Schwierigkeiten, das Problem der Realität auszuformulieren, an einem konkreten Beispiel zeigen  – der Auseinandersetzung Umberto Ecos mit dem ‚Vater‘ des philosophischen Postmodernismus, Friedrich Nietzsche.9 Da es um einen konkreten Text Nietzsches geht (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne), sind hier die durch Polemik entstandenen ‚Lücken‘ der Argumentation besonders offensichtlich. Dies tue ich nicht, um Ecos Position zurückzuweisen bzw. die von ihm angesprochenen Probleme als Scheinprobleme oder falsche Fragestellung diagnostisch-therapeutisch abzutun. Ganz im Gegenteil: Ich hoffe, dass die Fragestellung Ecos dadurch an Schärfe gewinnen kann, wenn man seinem Gegner erlaubt, seine stärksten Argumente auf den Tisch zu legen. Die Nicht-Radikalität der Wahrheit: Nietzsches Umkehrung der Erkenntnis Es sei vorweggenommen, dass es sich bei Eco um einen polemischen Text handelt, mit dem er jedoch keine voreilige Lösung bieten möchte. Im Gegenteil, er will damit zeigen, dass wir es hier mit einem gravierenden, bisher nicht gelösten Problem zu tun haben und dass die postmoderne Lösung in Wirklichkeit keine ist. Die These, dass es keine Tatsachen, sondern lediglich Interpretation gibt, sei nicht haltbar. Und Nietzsche selbst, dem diese These „gemeinhin […] zugeschrieben“ wird,10 hätte sie nicht in dieser Fassung konsequent vertreten können. Ecos 9 Ich berufe mich hier ausschließlich auf den Aufsatz Eco (2015), den ich gewissermaßen als Fazit seiner langen Auseinandersetzung mit der postmodernen ‚Beliebigkeit‘ betrachte, die schon in Das offene Kunstwerk (ders. 1977) und besonders in Die Grenzen der Interpretation (ders. 1992) stattgefunden hat. 10 Ders. (2015), 39. Diese Beschränkung der Gültigkeit ist nicht ohne Berechtigung, denn es handelt sich nicht um eine für die Leser gedachte, sondern um eine für sich notierte Formulierung Nietzsches, bei der diese These „gegen Positivismus“ aufgestellt wird (NL, Ende 1886–Frühjahr 1887, 7[60], KSA 12, 315). Die Macht der Interpretation   543 Aufsatz handelt dabei von einer kleinen Abhandlung Nietzsches, die eine enorme Wirkung hatte, vor allem weil hier eine (für Nietzsche ungewöhnlich) systematische Sichtweise dargelegt wird  – auf das Problem der Sprache, der Erkenntnis und der Kunst. Eben diesen Text betrachtet Eco als Begründung der These, dass es keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen gebe (die These kommt dort nicht vor), mehr noch, dass jene Interpretationen einem interpretierenden Subjekt beliebig zur Verfügung stünden – eine höchst kontraintuitive Annahme, die das Problem der Grenzen einer jeden Interpretation offensichtlich missachtet und dem Subjekt einen ontologischen Status zuschreibt, obwohl Nietzsche angibt, die Ontologie selbst abgetan zu haben. Tatsächlich bietet Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge ein Bild der Entstehung der Sprache und dadurch der Erkenntnis und der Wissenschaft, das, wie Eco sagt, „aus jedem Seienden ein Trugbild“ macht.11 Denn jede Bezeichnung entstehe, so Nietzsche, aus einem „bewegliche[n] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“ (WL  1, KSA  1, 880). Der erste Nervenreiz, eine höchst subjektive Empfindung, wird auf die Gegenstände und Situationen übertragen, die nur sehr grob und oberflächlich gesehen die gleichen sind. So entsteht die Illusion einer Wahrheit über das Seiende, die jedoch ursprünglich im „aussermoralischen Sinne“ eine Lüge gewesen ist, eine unberechtigte Übertragung von einem Bild auf ein anderes. Genauer gesagt: Es sind viele kleine Lügen, die sich, wenn sie sich anhäufen und zur Gewohnheit werden, als Wahrheit ausgeben können. Indem sie zur Wahrheit erstarren, bilden sie kategoriale Systeme – ein Kolumbarium der Begrifflichkeit. Und dieser grandiose Bau der Sprache wird schließlich als Erbe der Wissenschaft weitergegeben, die dann die Wahrheit sucht und – was für ein Wunder! – sie findet, oder vielmehr wiederfindet, wie einer, der nach etwas sucht, was er selbst vorher versteckt hat. Nun beginnt der neue „theoretische Mensch“ an diese Wahrheit zu glauben, indem er „sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst“ (KSA 1, 883, Sperrung im Orig.). „Vergessen“ ist hier ein Stichwort. Nur durch das Vergessen kann der Mensch an der eigenen Erfindung so festhalten, dass er die Trugbilder, die er selbst erschaffen hat (Anschauungsmetaphern) nun für etwas Wahres, für alle Zeiten Gegebenes hält und von den anderen fordert, dass sie diese richtig nutzen, d.  h. so, wie er selbst es tut. Der Witz besteht darin, dass es schlechthin unmöglich ist: denn streng genommen ist jede Situation anders. Der theoretische Mensch ist jedoch auch der moralische Mensch. Er glaubt nicht nur an die Wahrheit, die mit den Wörtern (Metaphern) befestigt wurde, er glaubt auch, dass sie etwas Gutes sei, das mit den Lügen der unberechtigten Metaphern – und 11 Eco (2015), 43. 544   Ekaterina Poljakova später bei Platon mit der Lüge der Künstler, die sich Freiheit für neue Metaphern nehmen – nichts gemeinsam habe. Die wissenschaftliche Wahrheit ist somit die Frucht des Vergessens der Herkunft jeder Wahrheit – aus einem Selbstbetrug. Soweit Nietzsche. Als Philologe kann Eco nicht umhin, zuzugeben, dass dies eine brillante Darstellung davon ist, wie die Sprache entsteht und wie sie funktioniert, die sogar „wohl kaum bestritten werden“ kann.12 Er stellt jedoch zwei Fragen. Erstens: Wie ist es möglich, dass wir mit der Welt trotz alledem zurechtkommen, obwohl es sich nur um Trugbilder handelt? Zweitens wirft er Nietzsche vor, er „schein[e] sich der Frage nicht bewusst zu sein“, wieso es gelegentlich zu den neuen, alternativen Konstruktionen kommt, dazu, dass man das Kolumbarium der Begriffe zu revidieren oder gar „in eine Krise zu stürzen“ vermag.13 Ich nehme diese zwei Fragen im Weiteren auf, um Nietzsches Argumentation zu schärfen und auch Ecos Bedenken am Ende neue Kraft zu verschaffen. Ich möchte mit der zweiten Frage beginnen, weil die Antwort darauf uns als Leitfaden dienen wird, um auch die erste zu vertiefen und daraufhin den Kern der Diskussion um den ‚Antirealismus‘ in den Fokus zu rücken. Was führt zur Krise des erstarrten Begriffssystems? Mir scheint, Nietzsche gibt uns einen Fingerzeig darauf, wie wir die Revolutionen im Kolumbarium der Begriffe deuten können. Um diesen zu verstehen, müssen wir seine These in aller Schärfe auffassen. Erstaunlicherweise sagt er nirgendwo, dass es keine Wahrheit gebe – gerade umgekehrt. Schon der Titel seines frühen Werkes gibt es zu verstehen: Es gibt die Wahrheit, sie kann jedoch der Lüge nicht radikal entgegengesetzt werden, deshalb will er über die beiden „im aussermoralischen Sinne“ sprechen. Das entscheidende Argument ist das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (WL  1, KSA  1, 880). Die berühmte Stelle in Ueber Wahrheit und Lüge, laut der wir so tun, als gäbe es das „Blatt“, „etwa eine Urform“, von der alle Blätter zwar abweichen, aber trotzdem nach ihr geformt und gefärbt seien: Diese direkt gegen den Platonismus gerichtete Stelle in Nietzsches Werk ist für die Beantwortung von Ecos Frage entscheidend. Wie kommt es zu den Revolutionen? Es muss zu ihnen unvermeidlich kommen, weil das „Baugenie“ in die Grundlage seines Werkes etwas hineingelegt hat, was selbst niemals Gegenstand der Erfahrung sein kann: sein fragwürdiges Verfahren, das Nicht-Gleiche gleichzusetzen. Blätter sind jedoch weder gleich noch ungleich, sondern: Sie sind je nach einem Kriterium mehr oder weniger gleich. Das ist ein feiner, jedoch ein wesentlicher Unterschied  – ein Gedanke, der aller Infragestellung der Realität bei Nietzsche und denen, die ihm folgen, zugrunde liegt. 12 Ebd., 40. 13 Ebd., 40–41. Die Macht der Interpretation   545 Selbst um Blätter als solche zu bezeichnen, müssen wir sehr grob sehen lernen, wir müssen verallgemeinern und Grenzen ziehen, wir müssen unsere Eindrücke, bunte Flecken, die uns reizen, in den Raum stellen und sie als Dinge, als Einheit aus den Zusammenhängen herausreißen. Was wären sie ohne Raum und Zeit, die selbst als Formen der Anschauung schon nach Kant der Frage nach der Realität entzogen sind? Was wären sie ohne unsere Kategorien der Einheit und Vielfalt, ohne unsere Vorstellung von Härte? In seiner nicht für die Veröffentlichung gedachten Schrift folgt Nietzsche Kant, jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze, nämlich nicht um zu sagen, dass das eigentliche Sein aus den Dingen-ansich bestehe, das uns Menschen zwar unerreichbar bleibe, jedoch da sein müsse, um sich in den Phänomenen zu zeigen. Nein, das Wahrnehmbare, das, was wir so unterschiedlich rubrizieren und in das Kolumbarium einordnen können, sind die Dinge, sogar die Dinge-an-sich, die jedoch auch immer anders sein können und tatsächlich somit auch anders sind.14 Es gibt Tatsachen. Jedoch sind sie auch Interpretationen. Und die Interpretationen sind ihrerseits Tatsachen. Nichts von beidem wird negiert – nur der radikale Unterschied zwischen ihnen. Man könnte es noch schärfer ausdrücken. Für Nietzsche gibt es sicherlich nur eine Tatsache – das absolute Fehlen eines privilegierten Standpunktes, was die Identität der ‚Dinge‘ und eine entsprechende Einordnung der ‚Welt‘ betrifft. Diese Tatsache ist bloß negativ und vor allem ist sie gegen die Vorstellung gerichtet, dass immer nur eine Interpretation richtig sein soll.15 Gerade diesem negativen ‚Antirealismus‘ wird Eco seinen eigenen „negativen Realismus“16 entgegensetzen, dessen These darin besteht, dass es zwar mehrere Interpretationen geben kann, aber manche Interpretationen nicht möglich sind, dass die ‚Dinge‘ sich ihnen widersetzen und die ‚Welt‘ sie zurückweist. Man merkt jedoch leicht, dass der ‚Antirealismus‘ Nietzsches dem „negativen Realismus“ Ecos nicht unbedingt widersprechen muss. Es mag sein, dass es unmögliche Interpretationen gibt (dies freilich wäre auch eine Interpretation), aber die Zahl der möglichen Interpretationen muss dabei nicht als eingeschränkt gedacht werden. Dass Nietzsches negatives Postulat jedenfalls keine Beliebigkeit impliziert (was man so gern den ‚postmodernen‘ Denkern unterstellt) und somit auch Ecos Negativität in sich aufnehmen kann, bedeutet allerdings nicht, dass Ecos Bedenken völlig unberechtigt wäre. Aber bevor ich auf das eigentliche Argument Ecos 14 Nietzsche notierte ebenso für sich zu Kant, dass „alle seine Sätze zugegeben, die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint“ (NL, Sommer 1872–Anfang 1873, 19[125], KSA 7, 459). 15 Vgl. dazu FW 374, KSA 3, 626–627; weiter: Stegmaier (2012), 410 ff. 16 Eco (2015), 51. 546   Ekaterina Poljakova gegen Nietzsche komme, möchte ich noch beim Gedanken über das Gleichsetzen des Nicht-Gleichen verweilen. Ist es auch eine Tatsache? Eine Überzeugung? Wenn es so wäre, wäre es nicht nur eine privilegierte Interpretation (im Widerspruch zu der ursprünglichen Intention Nietzsches), sondern auch nichts Originelles  – denn ein ähnlicher Gedanke wird in der Geschichte der Philosophie immer wieder geäußert, von den Stoikern bis Adorno. Dennoch ist Nietzsches Argumentation von der Beantwortung der fundamentalen Frage, ob es gleiche Gegenstände gibt, nicht abhängig. Denn Nietzsche sagt uns, im Unterschied z. B. zu Leibniz, nicht, dass es Gleiches nicht gibt, sondern dass unsere Sicht- und Denkweise so entstanden ist und sich dahingehend entwickelt hat, dass wir die Dinge nur im Vergleich wahrnehmen können und deshalb nicht anders können als sie immer als mehr oder weniger, in dieser oder in jener Hinsicht, gleich zu sehen. Die Möglichkeit, auf eine andere Weise gleichzusetzen, als es vorher getan wurde, ist folglich immer vorhanden. Hier möchte ich schon vorläufig bemerken, dass ich es sehr bezweifle, dass wir es wirklich mir einer im direkten Sinne des Wortes antirealistischen Position zu tun haben. Was Nietzsche negiert, ist nicht die Realität, nur die Möglichkeit einer privilegiert ‚realistischen‘ Position ihr gegenüber. Der Gedanke über das Nicht-Gleiche wird nur dann dramatisch antirealistisch, wenn man nach einer „finale[n] Entscheidung“ darüber sucht, wie die Dinge wahrhaftig sind.17 Gerade eine solche Entscheidung kann es nicht geben. Vor allem soll man sich davor hüten, die menschliche Perspektive zu privilegieren. Das Gleichsetzen des NichtGleichen ist kein Privileg des Menschen. Tiere, Vögel, Pflanzen und Bakterien werden zwar ihre Gleichsetzungen anders vollziehen als wir, doch das Wiedererkennen des Quasi-Gleichen ist auch für sie eines der grundlegendsten Bedürfnisse. Aber das Nicht-Gleiche ist deshalb nicht etwa die Wahrheit des Seins. Oder vielmehr: Es ist das Wahre, aber genauso wie das Gleiche. Die ‚Dinge‘ sind Spielräume, in denen die Gleichheit immer wieder neu entdeckt wird. Mehr noch: Das Nicht-Gleiche kann nur um den Preis entdeckt werden, dass die ‚Dinge‘, zwar auf eine neue Art und Weise, aber erneut, gleichgesetzt werden. Dies ist der Kern der ‚postmodernen‘ Argumentation: Wir bewegen uns nicht von einer Interpretation zu einer Tatsache, sondern von einer Tatsache, die sich als Interpretation erwiesen hat, zu einer anderen Interpretation, die wir nun bereit sind, für die Tatsache zu halten. Dieser Prozess ist nicht beliebig; denn eine Entdeckung des Nicht-Gleichen kann nicht erzwungen werden.18 Es sei noch einmal betont: Es gibt nach 17 Ebd., 42. 18 Für eine korrekte Beschreibung der postmodernen Position unter dem Vorzeichen des Prag­ matismus, die sowohl die Ontologie der vorgegebenen, interpretationsfreien Tatsachen als auch Die Macht der Interpretation   547 Nietzsche weder das Gleiche noch das Nicht-Gleiche, sondern nur das Gleiche und das Nicht-Gleiche unter bestimmten Voraussetzungen, aus einer bestimmten Perspektive, abgesehen von etwas und unter der Bedingung, dass etwas Bestimmtes in Betracht gezogen wurde. Wenn es sich, wie Nietzsche es darlegt, um einen Selbstbetrug handelt, so ist dieser niemals ein vollständiges Vergessen, aber auch selten ein bewusster Selbstbetrug. Eine Krise kann dementsprechend weder beliebig erzeugt noch beliebig verhindert werden. Hier stellt sich noch eine Frage bei Nietzsche, die man leicht missverstehen kann: Was ist dann Erkenntnis? Wenn unsere Sprache ein ständiges Wegsehen, Vergröbern und Verallgemeinern ist, das ab und zu in die Krise gerät, wäre sie damit als Instrument der Erkenntnis nicht unwiderruflich diskreditiert? Aber auch hier dringt Nietzsche tiefer als seine Kritiker in die Sache ein. Er will die Möglichkeit der Erkenntnis nicht leugnen: denn er nennt sich selbst immer wieder „Erkennender“ – freilich setzt er das Wort in Anführungszeichen (FW 54, KSA 3, 417). Er stellt jedoch die Frage nach der Erkenntnis radikal um. Bisher galt die Frage, ob bzw. wie Erkenntnis möglich sein kann. Dies war die Sorge Kants: die Möglichkeit der Erkenntnis zu sichern. Um nicht weniger sind auch die neuesten Vertreter des Realismus besorgt, auch wenn sie dies in Abgrenzung und sogar in Entgegensetzung zu Kant tun wollen. Doch hinter alle solche Versuche wurde von Nietzsche ein großes Fragezeichen gesetzt. Seine Fragestellung ist viel radikaler als jede epistemologische Skepsis. Sie kann folgendermaßen formuliert werden: Ist das, was wir Erkenntnis nennen, die einzig mögliche? Ist das Zurückführen des Unbekannten auf das Bekannte (FW 355, KSA 3, 593 ff.) bzw. das Gleichsetzen des Nicht-Gleichen tatsächlich etwas Zuverlässiges? Vielleicht könnte eine solche zweifelhafte Prozedur experimentell ja auch als das Gegenteil der Erkenntnis verstanden werden? Es wäre dann gar nicht die Frage, wie so eine Erkenntnis möglich ist, sondern ob eine andere Art Erkenntnis nicht ebenso möglich sein sollte: die Erkenntnis, die das Neue in den Dingen wahrnimmt und das NichtGleiche als solches in den Fokus rückt. Und auch wenn eine solche Erkenntnis für uns Menschen in ihrer Fülle nicht möglich ist: Sind die Neugier und die Empfindsamkeit dem Unbekannten gegenüber nicht immer da gewesen? Sie waren es, die zu den Revolutionen in der Wissenschaft führten und ständig verhinderten, dass diese endgültig zum Kolumbarium unserer Begrifflichkeit erstarrt. die Beliebigkeit der Interpretationen zurückweist, u. a. im Anschluss an Nietzsche und Wittgenstein, vgl. Abel (2004). Dieser bemüht sich darum, die Mitte zwischen Realismus und Antirealismus zu finden, bezeichnet die eigene Position jedoch u. a. als Zeichen- und InterpretationsNominalismus (ebd., 242 ff.). 548   Ekaterina Poljakova Wenn man diese Umkehrung der Idee der Erkenntnis in Betracht zieht, kann auch das vielzitierte No-Wonder-Argument Putnams leicht zurückgewiesen werden.19 Es ist gewiss kein Wunder und kein bloßer Zufall, dass die Wissenschaft erfolgreich ist. Die Frage ist nur, was genau unter der Wissenschaft verstanden wird und welche Kriterien des Erfolgs im Spiel sind. Wenn es sich um den technischen Umgang mit der Welt handelt, so kann man nicht leugnen, dass jeder Erfolg nicht nur von Misserfolgen, sondern auch von unerwünschten und unvorhersagbaren Konsequenzen begleitet wird. So konnte bei der Erfindung des Automobils noch keiner ahnen, dass manche vorher selbstverständlich gegebenen Dinge den Menschen von nun an verweigert sein würden, wie frische Luft oder Stille. Und die Erfolge der Landwirtschaft haben uns zuerst mit den unbeschränkten Möglichkeiten eines Fortschritts berauscht, bevor wir verstanden haben, dass unsere Lebensmittel immer mehr an Geschmack verlieren. Vom Klimawandel ganz zu schweigen. Darauf hinzuweisen, bedeutet nicht, die Erfolge und sogar die Unumgänglichkeit der Technik zu bezweifeln. Man darf nur nicht vergessen, dass dies immer nur Erfolge nach den vorgegebenen Kriterien sind. Was ist mit der Erklärbarkeit der Welt?20 Auch hier sind die Erfolge der Wissenschaft nicht zu bestreiten, wenn wir unter Erklärung die Fähigkeit, gewisse Vorhersagen zu treffen, verstehen. Aber die Vorhersagen der Wissenschaft sind ja Vorhersagen über bestimmte Dinge und Verhältnisse. Wie die anderen ‚Dinge‘ und die Welt im Ganzen sich verhalten, kann genauso sehr oder genauso wenig vorhergesagt werden wie das Wetter an der Ostseeküste. Dies ist nur bis zu einem gewissen Grad und unter bestimmten Bedingungen möglich, schon deshalb, weil das, was wir unter ‚Wetter‘ verstehen, eine grobe Verallgemeinerung ist. Das Gleichsetzen des Nicht-Gleichen gelingt, jedoch nur unter bestimmten Prämissen, innerhalb einer bestimmten bzw. beschränkten Perspektive. Wer würde bestreiten, dass die Erde als Kugel zu betrachten sich als erfolgreich erwiesen hat? Bis zu einem gewissen Grad wird sie sich wie eine Kugel verhalten. Und die physikalischen Vorhersagen, die auf dieser Grundlage gemacht wurden, erwei- 19 Das Argument lautet: Wie wären die Erfolge der Wissenschaft möglich, wenn unsere Urteile über die Realität ihr nicht entsprächen (vgl. Putnam 1975, 73)? Erstaunlicherweise teilen die Wissenschaftler selbst weder diesen Optimismus noch nehmen sie eigene Erfolge als Beweis dafür, dass sie der Realität nähergekommen wären. So z. B. Werner Heisenberg: „Das Wort ‚es gibt‘ ist ja ein Wort der menschlichen Sprache und bezieht sich auf die Wirklichkeit, wie sie sich in der menschlichen Seele spiegelt; über eine andere Wirklichkeit kann man nicht sprechen“ (zit. nach Arendes 1992, V). 20 Technischer Erfolg und sogar technischer Fortschritt ist immer das erste Argument von Verteidigern des wissenschaftlichen Realismus. Das Erklärungspotenzial der wissenschaftlichen Aussagen sei mit diesem Fortschritt bestätigt (vgl. Suhm 2004, 140). Die Macht der Interpretation   549 sen sich als erfolgreich und produktiv. Jedoch sind sie deshalb nicht absolut wahr, sondern unter Umständen mehr oder weniger wahr.21 Die Entscheidung, ob es sich um wahr oder falsch handelt, hängt von der Perspektive und dem Zweck der Beschreibung ab. Die Erdfigur kann gewiss auch anders, genauer, beschrieben werden und sie muss es sogar. Aber was wäre hier eine genaue Form? Soll man alle Unebenheiten (bis zu welchem Grad?) dabei in Betracht ziehen? Und dies so wie Menschen (mit Mikroskopen ausgerüstet?) es tun können, oder wie Insekten oder wie Bakterien? Auf welcher Ebene soll die Realität liegen? Trotz all dieser unlösbaren Fragen kann eine jeweilige Perspektive für bestimmte, an sie angepasste Zwecke sehr erfolgreich sein. Mit einem Wort: Der Erfolg der Wissenschaften ist kein Wunder und kein Zufall, aber auch kein Beweis dafür, dass wir es hier mit einer privilegierten, realistischen Wahrheit zu tun hätten. Die Frage ist nicht, ob die Wissenschaft Recht oder Unrecht hat, sondern bis zu welchem Grad und unter welchen Umständen, unter welchen konkreten Einschränkungen ihre Theorien Recht behalten. Noch einmal sei hier betont: Nietzsche hat niemals bestritten, dass Erkenntnis erfolgreich sein kann;22 er hat nur bestritten, dass es selbstverständlich ist, was wir unter Erkenntnis verstehen sollen. Vielleicht könnte man die Erkenntnis im Gegenzug zur Tradition als Entdecken mehrerer Wahrheiten, der Nicht-Radikalität der Wahrheit verstehen? Der harte Kern des Seins oder das Flussbett Bis jetzt könnte es so aussehen, als ob ich zeigen wollte, dass Nietzsches Position, wenn man sie ernst nimmt, allen Fragen und Herausforderungen der Realisten Genüge tun könne. Dies zu behaupten wäre jedoch nicht korrekt und ist nicht meine Absicht. Gibt es in Nietzsches Idee der Perspektivität nicht etwas, was angreifbar bleibt und einen Verdacht bestätigt, dass hier eine unberechtigte Übertreibung stattfindet oder gar Beliebigkeit propagiert wird? Darauf wies die erste Frage Ecos gerade hin. Zeigen sich die ‚Dinge‘ mit manchen Interpretationen nicht viel weniger konform als mit den anderen? Wieso lassen sich manche Dinge nicht sagen? Gibt es tatsächlich nicht bessere Interpretationen und auch solche, die gar nicht möglich sein sollten? Ich halte Ecos Beispiel, dass man beim Poker nur mit einer gewissen Kartenkombination gewinnen würde, für sehr unglück- 21 Die disjunktive Konzeption der Wahrheit stellt einen unter vielen Steinen des Anstoßes für die ‚Realisten‘ dar. „Die Realismus-Antirealismus-Debatte kann durchaus als Streit um das Prinzip der Zweiwertigkeit interpretiert werden“ (Köhler 1992, 9). 22 Vgl. den Aphorismus „Hoch die Physik!“ (FW 335, KSA 3, 564). 550   Ekaterina Poljakova lich, handelt es sich doch bei jedem Spiel um eine bewusste Konstruktion; die Regeln sind willkürlich festgelegt worden. Dasselbe gilt für das SchraubenzieherBeispiel aus der Diskussion mit Rorty.23 Das Beispiel mit Kokain und Aspirin (nur letzteres könne erfolgreich fiebersenkend eingesetzt werden) ist interessanter: denn hier scheint die Privilegierung einer Position durch die ‚Dinge‘ selbst vollzogen. Es handelt sich um die Beherrschung einer Situation, die außer Kontrolle geraten ist. Und nur wenn man eine ‚richtige‘ Interpretation findet, wird man sie bewältigen können. Hier kann man eine realistische Position entfalten, auch wenn sie bloß negativ ist. Offensichtlich gebe es, so Eco, „einen harten Kern des Seins“24, etwas, was manche Interpretationen verbietet. Die Berufung auf Tatsachen missachtet gewiss die Komplexität und Instabilität der Interpretationen. Jedoch missachtet auch die Berufung auf eine Interpretation die „Härte“, die manche Grenzen aufweisen, und ersetzt die Frage nach der Herkunft dieser Härte mit einem nichtssagenden Hinweis auf eine jeweilige Situation. Eco ist sich dabei völlig bewusst, dass es sehr schwer zu sagen ist, was den Kern ausmacht, was ihn hart macht. Um seinen Gedanken noch zu schärfen, unterstellt er seinen Gegnern die absurde Annahme, „dass alle Perspektiven gleichermaßen gut [seien]“25. Wenn man jedoch das Wort „gleichermaßen“ mit „jeweils unter Umständen“ ersetzt, wird diese Annahme viel weniger absurd. Allerdings ist es kaum zu bestreiten, dass sie dadurch auch trivial wird; denn die Frage ist, was eine Interpretation in einer konkreten Situation privilegiert und die anderen herabsetzt. Nach Eco liegt die Vermutung nahe, dass das Sein selbst sich dabei meldet und eine Perspektive bevorzugt.26 Die Frage ist gewiss nicht neu. Doch ist es weder leicht, sie zu beantworten, noch, sie richtig zu formulieren, d.  h., den Kern des Fraglichen hier zu treffen 23 Im Gegenzug zu Rorty, der einen Schraubenzieher als polyfunktional gedeutet hat, behauptet Eco, dass man zwar damit tatsächlich nicht nur Schrauben befestigen, sondern auch ein Paket öffnen und sich am Ohr kratzen, aber doch ihn nicht als Glas verwenden könne (Eco 2015, 38 u. 43). Das Problem, das er dabei übersieht, ist, dass auch die Benennung „Glas“ eine Interpretation ist. Wenn es sich dabei um ein Gefäß zum Trinken handelt, so zeigt das Argument leider auch nichts weiter als eine Privilegierung einer bestimmten Interpretation, und zwar der menschlichen. Gewiss ist es für Menschen unbequem, aus einem Schraubenzieher zu trinken, jedoch nicht für Ameisen oder Mücken. Insofern kann er sehr wohl als „Glas“ angesetzt werden, nur unter anderen Umständen und durch andere „Interpreten“. 24 Ebd., 45 (Hervorh. im Orig.). 25 Ebd., 42. 26 Eco geht jedoch noch weiter und fordert „öffentliche Kriterien“ für berechtigte und ein Verbot der unberechtigten Interpretationen (ebd., 45). Das moralische Pathos Ecos wirkt m. E. kompromittierend, denn wenn das ‚Sein‘ tatsächlich etwas verböte, wäre ein zusätzliches Verbot völlig überflüssig. Die Macht der Interpretation   551 und eine banal-tautologische Antwort zu vermeiden. Bevor ich meine Argumente dafür darlege, in welcher konkreten Fassung solche Fragen m. E. berechtigt sind, möchte ich noch ein Paradebeispiel der sogenannten Realisten zurückweisen, das Eco freilich nicht angibt. Es betrifft die prähistorischen Zeiten, die Existenz der Welt vor dem Aufkommen der Menschheit; obwohl es keine Interpreten gab, habe gewiss etwas existiert, z. B. der Tyrannosaurus rex27. Dieses Beispiel möchte ich kurz besprechen, um noch einmal Missverständnisse auszuräumen. Erstens hat keiner ernsthaft behauptet, das Interpretieren sei ein Privileg des Menschen. Nach Nietzsche ist Leben selbst eine Interpretation und das impliziert einen ganz anderen Begriff der Interpretation als bloßes Auslegen der Tatsachen. Indem das Lebendige vergleicht, einordnet, etwas abweist und sich etwas aneignet, präferiert und diskriminiert, interpretiert es die Welt und wird selbst immer wieder neu interpretiert. Das lebendige Funktionieren ist nur aufgrund von Interpretationen möglich. Zweitens muss man sich, um etwas oder jemanden als Tyrannosaurus zu bezeichnen, schon eine gewisse, z. B. aristotelische Vorstellung von der Natur angeeignet haben; folglich ist die Existenz eines Tyrannosaurus als Vertreter einer biologischen Art (und nicht z. B. als eine Anhäufung von Molekülen oder als Milieu für Bakterien) gewiss eine Interpretation. Drittens brauchen wir, um die Vergangenheit als solche zu identifizieren, um sie als so und nicht anders zu beschreiben, gewaltige Interpretationen, so mächtig und so gewagt, dass sie nicht auf einmal erscheinen oder revidiert werden können, sondern durch mehrere lokale Interpretationen vorbereitet werden müssen, so wie das Konzept der linearen Zeit, dessen Realität auf keinen Fall eine einfache Tatsache ist, oder das Konzept der Identität. Wenn wir alles Interpretative weglassen, was die Vergangenheit, seien es prähistorische oder nähere Zeiten, anbelangt, bleibt uns nur zu sagen, dass es damals (wiederum zeitlich bestimmt!) etwas wahrscheinlich gab, was wir heute genauso wie damals, wären wir dabei, unterschiedlich deuten und umdeuten könnten. Nur wenn man uns vor eine falsche Alternative stellt – entweder war alles so, wie wir es beschreiben bzw. im Idealfall beschreiben könnten, oder es gab gar nichts – kann die Berufung auf prähistorische Zeiten als Argument für den Realismus gehalten werden.28 Die sogenannte postmoderne Position liegt jedoch dazwischen. Wer behauptet ernsthaft, dass in den prähistorischen Zeiten nichts da war, oder dass es nur da war, wenn es heute wahrge- 27 Vgl. Ferraris (2015), 57. 28 Selbst Dummett (2004), der das realistische Verständnis der Wahrheit als Übereinstimmung mit den vergangenen Tatsachen mit einer Bedeutungstheorie zu verknüpfen und so den Kompromiss mit einer antirealistischen Position zu finden sucht, scheint denselben falschen Alternativen verhaftet zu sein (Wahrheitsbedingungen seien ‚objektiv‘ erfüllt oder nicht erfüllt). 552   Ekaterina Poljakova nommen und interpretiert wird? Die Position des ‚Antirealisten‘ besteht dagegen darin, dass alle heutigen Urteile über die Vergangenheit in ein bestimmtes Geflecht der Interpretationen eingebettet sind und nur innerhalb dessen ihren Sinn behalten.29 Gerade das Hermeneutische der historischen Aussagen wird mit dem Wort ‚Interpretation‘ klar gemacht. Was dagegen ‚in Wirklichkeit‘ da war, bleibt nicht bloß unbekannt, kein kantisches ‚X‘, sondern eine widersinnige Fragestellung, weil die Wirklichkeit selbst nicht eindeutig sein kann, wenn man eine privilegierte Position aufgeben musste, sei es die eines Gottes oder die eines Wissenschaftlers oder überhaupt die eines Menschen. Wenn das prähistorische ‚Geschehen‘ nicht monistisch gedacht wird, braucht man ferner weder ein wahrnehmendes noch ein transzendentales Subjekt.30 Nur wenn wir uns die Geschichte als eine gewisse Einheit, als einen festen Grund für alles Geschehen vorstellen, brauchen wir die Einheit des Subjekts. Laut Nietzsche müssen wir jedoch beides aufgeben – das transzendentale Subjekt und das kantische ‚X‘, das hinter den Phänomenen steckt.31 Eins scheint mir in dieser komplexen Diskussion viel klarer und einfacher, als man es gewöhnlich darstellt: Keine Berufung auf die Vergangenheit kann uns ein Beispiel des Nicht-Interpretativen, des Tatsächlichen liefern, schon deshalb nicht, weil die Vergangenheit nichts Festes ist. Und der Grund dafür ist nicht, dass uns etwa Kenntnisse über die historischen Ereignisse fehlten, die man zumindest im Prinzip haben könnte, um genau zu sagen, dass der und die dies und jenes getan haben. Im Gegenteil: Je mehr Kenntnisse wir haben, desto weniger klar wird das Geschehen; je näher uns das Geschehen rückt, desto problematischer werden unsere Aussagen. Über Dinosaurier sind wir uns mehr oder weniger einig, auch vielleicht etwa über römische Geschichte, schon weniger über das Mittelalter und über die Zeit der Aufklärung und Reformation. Das 20. Jahrhundert ist 29 Wie Demmerling zeigte, hat der sog. Antirealismus mit einem starken Relativismus wenig zu tun und sogar viel weniger als der Realismus selbst. Letzterer geht ständig von falschen Gegensätzen aus: entweder eine letzte Wahrheit oder gar keine. Der Antirealismus sucht jedoch, wenn er sinnvoll formuliert wird, einen ‚dritten‘ Weg zwischen letzter Wahrheit und Beliebigkeit (vgl. Demmerling 2004, 46–47). 30 Das transzendentale Argument nutzt Meillassoux, um das Historische gegen die vermeintlich idealistische Position der ‚Antirealisten‘ zu retten (vgl. Meillassoux 2014, 12 ff., u. ders. 2008, 20 ff.). 31 Mir scheint, dass Eco und die anderen Kritiker des Antirealismus insofern den Kern von Nietzsches Argumentation nicht begriffen haben, dass sie jedem ‚Antirealisten‘ eine Privilegierung von Subjekt und sogar menschlichem Subjekt unterstellen, d. h. genau das, was Nietzsche bestreitet. Erst durch das Geschehen der Interpretation wird auch der ‚Interpret‘ sichtbar, auch für sich selbst. Die Macht der Interpretation   553 ein wahrer Kampfplatz gegensätzlicher Interpretationen. Und über die europäische Politik der letzten zehn Jahre, geschweige denn der letzten Monate, kann man wirklich heftig diskutieren und sich dabei auf viele ‚Tatsachen‘ berufen, die den Diskussionspartner kaum überzeugen können – denn er sieht sie anders. Die Heftigkeit und Unversöhnlichkeit mancher privaten Auseinandersetzungen um politische Fragen ist m. E. damit zu erklären, dass man sich für einen Augenzeugen vieler heterogener ‚Tatsachen‘ hält, die jedoch jeweils einer anderen Weltinterpretation angehören. Darum kann man der anderen Seite immer vorwerfen, sie halte sich nicht an die ‚Realität‘. Daraus folgt ein überraschender Schluss: Je aktueller die Ereignisse sind, je mehr Informationen wir über sie haben, desto schwieriger ist daraus eine Interpretation zu ziehen, die alle für wahr bzw. für eine Tatsache halten würden. Den Grund dafür hat wiederum Nietzsche genannt: „Was will man da feststellen? Was im Moment des Geschehens nicht feststand“32. Ein gewisser nachträglicher Konsens kann das Nicht-Feststehende später stabilisieren, aber auch dies nur auf Zeit. Die These, bezüglich der Vergangenheit gebe es von Interpretationen freie Tatsachen, ist somit entschieden zurückzuweisen. Es lässt sich immer auf eine Vorlage hinweisen, in die eine Handlung oder ein Geschehen eingebettet werden muss, damit alles eindeutig erscheint, seien es prähistorische Zeiten, eine Geschichte aus der näheren Vergangenheit oder eine frische Nachricht in der Abendzeitung. Nun können wir die Unzufriedenheit der Realisten mit der Interpretationsthese der Postmoderne besser formulieren. Die Frage ist nicht, ob es Tatsachen ohne Interpretationen geben kann. Diese Frage scheint mir nicht besonders rätselhaft. Die Antwort wäre: Solche Tatsachen sind uns unbekannt und es gibt gute Gründe dafür, warum sie uns unbekannt bleiben müssen. Aber auch wenn sich keine radikale Kluft zwischen Tatsachen und Interpretationen feststellen lässt, bleibt die Frage übrig: Was macht diesen Unterschied überhaupt aus? Wenn es keinen radikalen Unterschied zwischen Tatsachen und Interpretationen gibt, so gibt es vielleicht einen nicht radikalen, aber erheblichen Unterschied zwischen starken und schwachen Interpretationen? Und es genügt nicht, ihn bloß auszuweisen. Man sollte ihn auch beschreiben können und zumindest versuchen, Kriterien für die ‚Stärke‘ anzugeben. Das Problem ist nicht gerade einfach. Ein anderer ‚Antirealist‘ und Vater der philosophischen ‚Postmoderne‘, Ludwig Wittgenstein, hielt es für unlösbar, auch wenn er es nicht zurückweisen wollte. In seinen späteren Überlegungen, die unter dem Titel „Über Gewißheit“ gesammelt wurden, versucht er diese Frage mit Hilfe einer Metapher darzulegen. In unserem Weltbild, d. h. in allem, was wir als unser 32 Nietzsche (1986), 28 (Nr. 804). 554   Ekaterina Poljakova Wissen verstehen, was uns als Gewissheit vorkommt, könne man die „erstarrten“ und die „flüssigen“ Erfahrungssätze unterscheiden; jedoch nur nach ihrer heutigen Funktion, denn dieses Verhältnis ändere sich „mit der Zeit“33. Die „erstarrten“ Sätze sind quasi „Gesteine“34, sie bilden „das Flußbett der Gedanken“, das diese beschränkt und uns beständig zu sein scheint. Aber „zwischen der Bewegung des Wassers im Flussbett und der Verschiebung“ des Flussbetts gibt es keine scharfe Trennung;35 genauso – und auf diesen Vergleich zielt Wittgenstein – wie es keine scharfe Trennung „zwischen den Fällen, in denen ich mich nicht, und solchen, worin ich mich schwerlich irren kann“36 gibt. Eine Änderung mancher Aussagen ist allerdings nur durch eine Revision des ganzen Weltbildes bzw. der Lebensform möglich.37 Wenn die Gesteine weich werden, verändert sich das ganze Flussbett. Jedoch entstehen dabei neue Gesteine. Das neue Weltbild scheint genauso unumstritten endgültig wie das alte. Um Ecos Metapher mit der Wittgensteins zu verknüpfen, könnte man nun sagen: Auch der harte Kern des Seins ist nicht unveränderlich, wie die Gesteine des Flussbettes. Er lässt sich zwar von den flüssigen Teilen unterscheiden, aber seine Stabilität ist nur eine Frage der Zeit. Mit anderen Worten: Auch wenn manche Aussagen absolut richtig oder absolut falsch erscheinen – nichts schützt sie vor einer Revision (und Eco verlangt Garantien!38), auch wenn diese im Moment schwer oder gar nicht vorstellbar zu sein scheint.39 Um diese Ansicht plausibler zu machen, muss man noch hinzufügen, dass auch die Herstellung eines Dinges wie eines Schraubenziehers, der nach Eco manche Interpretationen nicht zulässt, oder eine Handlung wie die Mondlandung Frucht mehrerer Interpretationen ist. Diese stellen, wie alle Interpretationen, nichts Beliebiges dar, sondern sind schwer errungene Siege über und in Kooperation mit anderen Interpretationen. Zwischen Interpretation und Handlung ist der Unterschied genauso fragil und nichtradikal wie zwischen den weichen Teilen des Flussbettes und dem Gestein. Und dennoch: Verfehlt eine solche Sichtweise nicht etwas Wesentliches? Einen wesentlichen Unterschied? Eine offensichtliche Tatsache, dass die Grenzen 33 Wittgenstein (1984a), § 96. 34 Ebd., § 99. 35 Ebd., § 97. 36 Ebd., § 673. 37 Ders. (1980), § 23. 38 Vgl. Eco (2015), 44. 39 So sollte man nach einem Beispiel Wittgensteins, das im Jahr 1950 noch überzeugend war, noch für verrückt erklärt werden, wenn man behaupten würde, es sei möglich, auf den Mond zu landen. Vgl. Wittgenstein (1984a), §§ 93, 106 u. 108. Die Macht der Interpretation   555 der möglichen Interpretationen nicht durch Interpretationen, sondern durch die ‚Welt‘ selbst festgelegt wurden? Kann man jede Tatsache uminterpretieren? Gibt es hier nicht eine absolute Grenze, über die man nicht hinauskann? Horizontlinien der Realität: unbeantwortete Fragen Die Frage, die ich nun stellen möchte, lautet: Wie kann man den von Eco angesprochenen „harten Kern“ allen Geschehens beschreiben, ohne Nietzsches tiefste Einsicht aufzugeben, dass auch Tatsachen Interpretationen sind, dass unsere Erkenntnis nur eine Art Erkenntnis, und zwar vielleicht die armseligste Art ist, weil sie unsere Fähigkeit zum Interpretieren und Uminterpretieren, das Leben selbst, missachtet und durch eine Suche nach der vorgegebenen, für immer feststehenden, privilegierten Wahrheit ersetzt? Eco weiß um das Argument der Postmoderne, die das Sein nur „als Aufschub und als Entzug seiner selbst“ duldet.40 Eine jede Interpretation wird durch andere Interpretationen, die heutigen und vor allem die vorhergehenden, beschränkt. Er erklärt dieses Argument für nicht haltbar: denn erstens verleite es zum infiniten Regress und zweitens sei es höchst kontraintuitiv. Offensichtlich könne man Kokain nicht als Aspirin uminterpretieren. Nun ist das Regress-Argument in der Hinsicht interessant, dass es auch gegen den Argumentierenden selbst gerichtet werden kann. Das eigentliche Problem aller Korrespondenztheorien, auch so bescheidener wie der Ecos, scheint nicht darin zu bestehen, dass sie falsch sind, sondern darin, dass sie das Fragen nach den Kriterien der Korrespondenz beliebig abbrechen. Die Beliebigkeit, der Haupteinwand gegen den Antirealismus, kann den Realisten selbst vorgeworfen werden. In der Tat: Wenn man fragt, ob ein Urteil dem Gegenstand des Urteilens adäquat ist, muss man ein Kriterium der Adäquatheit angeben. Aber dieses Kriterium selbst soll weiter auf seine Adäquatheit hin befragt werden, was wiederum nach einem Kriterium verlangt usw.41 Man merkt leicht, dass eine Korrespondenztheorie nicht weniger als die Idee der allumfassenden Interpretationen zum infi- 40 Eco zitiert Gianni Vattimo (Eco 2015, 42). 41 Hier zu sagen, wie ‚Realisten‘ es gewöhnlich tun, dass „Tatsachen […] Wahrheiten“ seien, „die auf Gegenstände zutreffen“ (Gabriel 2016, 49), heißt, das Problem zu überspringen. Es wäre gerade zu klären, was es heißt, dass etwas „zutrifft“, und ebenso, „dass etwas so-und-so ist“ (ebd.). 556   Ekaterina Poljakova niten Regress führt. Letztere hat jedoch einen Vorteil, dass sie den unendlichen Aufschub des Hinterfragens anerkennt, den die Korrespondenztheorie leugnet. Wenn man den Kreis der möglichen Aussagen für alle Zeiten umreißen will, muss man den Prozess des Hinterfragens willkürlich beenden. Es gilt heute wie früher: Nur die Berufung auf eine Gottheit kann den Anspruch, Realität richtig beschreiben zu können, rechtfertigen. Und das Problem ist nicht, dass wir heute, abgesehen von unserem persönlichen Glauben oder Nicht-Glauben, nicht geneigt sind, mit einer Gottheit zu argumentieren. Das Problem ist, dass diese Berufung nicht besonders vielsagend ist, heute ebenso wie zur Zeit der Scholastik: denn sie legt bloß unsere Unfähigkeit offen, die Realität zu begreifen und ihre Grenzen zu ziehen, indem wir diese Aufgabe dem göttlichen Handeln überlassen, das uns als solches unergründlich erscheint. Wenn man nach dem ersten Anfang fragt, kann man also die unwillkommene Unendlichkeit nur dann vermeiden, wenn man etwas (oder jemanden) dem menschlichen Verständnis Jenseitiges annimmt. Keine anderen Garantien für den Abbruch des Hinterfragens nach den Kriterien der Adäquatheit scheinen uns zur Verfügung zu stehen. Aber auch Ecos Vorwurf den Postmodernen gegenüber ist nicht ganz unberechtigt. Auch der Aufschubs- und Entzugsgedanke gibt uns keine befriedigende Lösung dafür, woher die Ketten der Interpretationen ihre Kraft nehmen und wo sie anfangen. Die Ironie besteht darin, dass auch die postmoderne Berufung auf die Unendlichkeit der Interpretationsketten nur zu retten wäre, wenn man am Anfang einen Interpreten gesetzt hätte, der das Seiende mit seinem Wort ex nihilo ins Leben gerufen hat und dafür keine Tatsachen nötig hatte. Zwischen dem Nichts und dem Sein ist eine Kluft, die das ungeheure, phantastische, göttliche Wagnis der ersten Interpretation erfordert, worin sich weitere Interpretationsgeflechte verwurzeln könnten. Das Problem der ersten Interpretation scheint somit genauso unergründlich wie die Frage nach dem Grund des Seins und aller Realität.42 Aber auch wenn der Vorwurf des infiniten Regresses sich damit, wenn nicht entkräftet, so doch als zweischneidig erwiesen hat, bleibt das andere Bedenken. Lässt sich tatsächlich alles uminterpretieren? Gerade die Historie demonstriert immer wieder: In jeder Geschichte ist etwas, was uns unverfügbar geworden ist, was unwiderruflich unmöglich wurde. Das Feld ‚Realität‘ scheint damit ziemlich 42 Die Situation beinhaltet tatsächlich viel Ironisches: denn beide Seiten werfen einander vor, die geheime Rehabilitierung des theologischen Denkens zu begünstigen. Die Postmodernen können sich dabei auf den Theo-Logo-Zentrismus jeder Korrespondenztheorie berufen. Zu dem Vorwurf seitens der Realisten gegen die Antirealisten vgl. Albert (1994), 33–34. Erstaunlich aggressiv wird der Vorwurf der Begünstigung des religiösen Fanatismus (sic!) in Meillassoux (2008), 41 ff. Die Macht der Interpretation   557 klar abgegrenzt zu sein. Es genügt jedoch nicht, es als Feld oder als Pluralität der Felder zu beschreiben. Man sollte noch klären, was seine Grenzen ausmacht bzw. was der Unterschied zwischen diesem Feld und den anderen bedeutet.43 Auch wenn wir mit Nietzsche akzeptiert haben, dass alle Realität nur mit und durch Interpretationen als solche funktionieren kann, dass es keine interpretationsfreie Realität gibt, bleiben die Interpretationen einander wesentlich ungleich. Schauen wir uns genauer an, wie diese Ungleichheit funktioniert. Wenn eine Interpretation selbstverständlich ist, funktioniert sie wie eine Tatsache. Wenn sie aber als unmöglich angesehen wird, so ist sie gerade keine Tatsache. Jedoch sind Interpretationen, das haben wir mit Nietzsche und Wittgenstein eingesehen, niemals bloß selbstverständlich oder bloß unmöglich. Sie sind es immer mehr oder weniger. Daher kommt ihre Ungleichheit. Sie sind zwischen den zwei Extremen aufgespannt  – zwischen Selbstverständlichkeit und Unmöglichkeit. Um Wittgensteins Metapher wieder aufzunehmen: Für jeden Fluss gibt es den höchsten Punkt, wo er seinen Ursprung nimmt, und den Nullpunkt, den Meeresspiegel. Sie können sich freilich auch verschieben. Wir haben mehrmals gesehen, wie das Selbstverständliche (z.  B. das göttliche Wirken) in das Unmögliche umgedeutet wurde und das Unmögliche (Flug auf den Mond) in das Selbstverständliche. Doch dies passiert noch seltener als eine Veränderung des Flussbettes. Das Unmögliche und das Selbstverständliche sind Horizontlinien, die den Spielraum aller Interpretationen beschränken und damit das Realitätsfeld umreißen. Dennoch darf man sich die Realität gerade nicht als homogenes ‚Feld‘ vorstellen, nicht als eine Art Behälter, in dem alles, was real ist, enthalten wäre. Der Spielraum der Interpretationen ist wesentlich heterogen. Deshalb überzeugt die gewöhnliche Deutung der Weltbildmetapher nicht, der zufolge solch ein Bild bloß eine Summe von „nicht weiter begründ- oder erklärbaren Grundüberzeugungen“ und bildlichen Anschauungen zu sein scheint.44 Man sollte die Metapher des „Bildes“ weitertreiben und ihre Heterogenität stark machen. Das Bild besteht aus mehr oder weniger begründeten und unbegründeten, mehr oder weniger starken Überzeugungen und mehr oder weniger deutlichen Meinungen. Es ist schließlich 43 Die Ontologie der Sinnfelder, wie sie von Markus Gabriel entwickelt wurde, ist zwar gegen die Welt als Einheit gerichtet, eine Vorstellung, die vom Autor als metaphysisch gebrandmarkt wird; sie löst jedoch das Problem der Grenzen keineswegs, wenn man es nicht mit einem schlichten und m. E. nichtssagenden „das sei der Fall“ bloß zurückweisen will. Die pluralistische Ontologie verneint zwar die globale, aber nicht die lokale Metaphysik (vgl. Gabriel 2016, 80). Es wird systematisch übersehen, dass es mehrere mögliche Interpretationen auch von ‚Sinnfeldern‘ geben kann. Auch „Keine-Welt-Anschauung“ (ebd., 224 ff.) bleibt eine Weltanschauung, die einer kritischen Perspektivierung der eigenen Sichtweise auf die ‚Welt‘, ‚Sinn‘ und ‚Sein‘ fremd ist. 44 Vgl. Abel (2004), 117–118. 558   Ekaterina Poljakova gar kein konsistentes, zur Verfügung stehendes Bild, sondern bloß ein verwickeltes Geflecht, eine Reihe spontaner Verknüpfungen und unbewusster Assoziationen und Auslegungen. Manche der Interpretationen sind dabei fast selbstverständlich, die anderen fast unmöglich und die dritten weder selbstverständlich noch unmöglich, sondern bloß wahrscheinlich oder zweifelhaft. Mehr noch: Das Bild hat weder deutliche Rahmen noch stellt es etwas Simultanes dar. Es umfasst nicht nur das, was wirklich geschehen ist, sondern auch alles das, was möglich gewesen ist oder sein wird. Erstaunlicherweise unterscheiden wir nicht nur das Wirkliche und das Mögliche, sondern auch das Wirklich-Mögliche und das Nichtwirklich-Mögliche, und noch komplizierter: das Wahrscheinlich-Mögliche und das Unwahrscheinliche. Selbst wenn man dem Kranken sein Medikament nicht rechtzeitig gegeben hat, gehen wir nachträglich davon aus, dass diese Möglichkeit wirklich vorhanden war. Eine solche Interpretation kann die Realität wesentlich verändern (z. B. rechtliche Konsequenzen einer unterlassenen medizinischen Hilfe). Man spürt hier eine gewisse Abstufung der Realität: das Wirklich-Mögliche ist realer als das Unwahrscheinlich-Mögliche, jedoch wesentlich weniger real als das Wirkliche usw. Gleiches trifft auf das Notwendige zu, z. B. für die Naturgesetze. Auch sie sind Interpretationen, die niemals ohne gewisse Prämissen bzw. unter allen Umständen gelten würden.45 Die moderne Quantenphysik funktioniert nur aufgrund von Wahrscheinlichkeitsrechnung und demonstriert somit, dass auch das Notwendige nur mehr oder weniger wirklich sein kann. Daraus ergibt sich ein wichtiger Schluss. Die Realität wird dadurch gekennzeichnet, dass alles, was zu ihr gehört, nicht bloß als real anzusehen ist, sondern als mehr oder weniger real. Um unsere Metapher wieder aufzunehmen, können wir sagen: Die Annäherung an die Horizontlinie, die das Selbstverständliche markiert, bedeutet mehr Teilnahme an der Realität. Die Annäherung an die Horizontlinie, die das Unmögliche markiert, bedeutet, weniger real zu sein. Hier möchte ich Folgendes nicht unerwähnt lassen: Bei allen Debatten um den Realismus am meisten erstaunlich scheint mir immer wieder, wie die ‚Neuen Realisten‘ die Ausdrücke „es gibt“ oder „existiert“ problemlos verwenden, als ob dies eine einfache Sache wäre und es bloß festzustellen bliebe, wann die Ausdrücke anwendbar sein sollten, d. h., ob etwas von einem Beobachter unabhängig stattfinde oder nicht.46 Man kommt immer wieder auf die verblüffend-tautologische, 45 Nach Eco markieren die Naturgesetze zwar die Grenzen der Realität, „[w]orin diese Grenzen aber bestehen, kann man mit Gewissheit überhaupt nicht sagen“ (Eco 2015, 49). 46 Trotz seines „ontologischen Pluralismus“ tut dies auch Gabriel (vgl. Gabriel 2016, 29). Wenn er sich ausdrücklich zur Aufgabe bekennt, die Bedeutung von Existenz zu klären, so meint er jedenfalls nicht das Problematisieren von „es gibt“. Auch seine mehrmals wiederholte Formulie- Die Macht der Interpretation   559 nichtssagende Formulierung: Die Existenz eines Gegenstandes bestehe darin, dass es ihn wirklich gibt.47 Weder die Verstärkung „wirklich“ noch eine weitere Abgrenzung von der „Existenz“ als Bereich des Möglichen kann dabei helfen, diesen von Martin Heidegger angesprochenen fraglichen Sinn des scheinbar einfachen „es gibt“ zu klären. Wenn auch mein Vorschlag, die phänomenologische Idee der Horizontlinien hier wieder fruchtbar zu machen, es nicht tun können wird, soll er jedoch der Heterogenität der Realität Rechnung tragen. Es ist, wie ich hoffe, überflüssig zu sagen, dass mit Heterogenität nicht etwa Quantifizierung oder irgendeine Formalisierung gemeint ist. Das „mehr oder weniger“ ist keineswegs messbar oder festlegbar. Jede Vorstellung, die die Realität als homogen denken ließe oder auf einen gemeinsamen Nenner (etwa einen bestimmten Sinn eines Sinnfeldes) brächte, wäre hier ein Missverständnis. Die Realität sollte man eben nicht als eine ‚Welt‘ betrachten, zu dem alles Wirkliche (eventuell auch das Mögliche) gehört, nicht bloß „alles“, „was in einer vollständigen Beschreibung der Welt erwähnt werden müßte“48. Dieses „alles“ ist oder kann auf unterschiedliche Art und Weise sein, nicht nur mehr oder weniger, sondern auch dies nur auf Zeit.49 rung, existieren bedeute, in einem Sinnfeld zu erscheinen (vgl. ebd., 184), erweist sich als tautologisch, denn das ‚Geben‘ wird dem ‚Erscheinen‘ ohne Weiteres gleichgestellt. Trotzdem wird die Unterscheidung „fiktiv/wirklich“ erstaunlich problemlos verwendet (vgl. ebd., 220 ff.). Mit der Pluralisierung der Welten wird der Gedanke, dass die Dinge auf unterschiedliche Art und Weise „sind“, von vorn herein ausgeblendet und sogar entschieden zurückgewiesen (ebd., 200–201). Darauf wäre Folgendes einzuwenden: Es mag sein, dass es die Welt tatsächlich nicht gibt (dieser negativer Sinn ist bei Gabriel dominierend, trotz des Anspruchs, auch die positive Ontologie zu entwickeln); aber auch ‚Welten‘ oder Sinnfelder gibt es erstens in unterschiedlichem, immer noch nicht geklärtem Sinne, und zweitens ist jede ‚Welt‘ bzw. jedes Sinnesfeld seinerseits nicht homogen (nicht bloß ‚wirklich‘ oder ‚imaginär‘). Gerade dies wäre jedoch der Kern des ontologischen Problems: Was macht die Grenzen, d. h. die prinzipielle ontologische Ungleichheit und Nicht-Homogenität der ‚Welten‘, und seien sie auch ‚Sinnfelder‘, aus? Was bedeutet, dass diese Felder existieren und ob sie alle dies gleichermaßen und auf gleiche Art und Weise tun? Meine These ist, dass weder ‚Realisten‘ noch ‚Konstruktivisten‘ diesen Fragen gerecht werden und dass sie von den zahlreichen Missverständnissen und Vereinfachungen der Argumente von Gegnern immer wieder (ob mit Absicht oder nicht) verdunkelt und überspielt werden. Auch „eine Theorie der Modalitäten“ (ebd., 283), die Gabriel entwickelt, kann für diese Fragen kaum hilfreich sein. Man beschreibt z. B. das Mögliche genauso wie das Wirkliche mit schlichten Dichotomien „es gibt/es gibt nicht“ (vgl. ebd., 25, 173–174 u. 183 ff.). 47 Vgl. ebd., 33. 48 Russell (1976), 222. 49 Zur Kritik der Vorstellung von der ‚Welt‘ als bloßem Behälter der für die Erkenntnis (im Prinzip) verfügbaren Tatsachen vgl. Heidegger (1994), 94. Zur Welt als Ort der Orientierung mit beweglichen Horizontlinien vgl. Stegmaier (2008), 194 ff. 560   Ekaterina Poljakova Kehren wir nun zur Frage Ecos zurück. Wenn wir sie auch nach unserer Auseinandersetzung mit dem Denken Nietzsches beibehalten können, lautet sie nun nicht: Was ist der Kern des Seins, frei von den Interpretationen? Wenn wir seine Frage sinnvoll stellen möchten, so müssen wir sie folgenderweise umformulieren: Was macht das Mehr oder Weniger der Realität einer Interpretation aus? Und: Gibt es eine für das Interpretieren unüberbietbare Grenze, einen Nullpunkt der Realität – das Unmögliche? Dass es ihre vollkommene Fülle, das absolut Sichere und Selbstverständliche, nicht geben kann, hat sich schon mehrmals als richtig erwiesen. Darum konnte Eco seinen Realismus nur negativ formulieren. Eco hat Recht: Wenn unmögliche Aussagen nicht wirklich unmöglich sind, so sind sie viel weniger möglich als die anderen. Es genügt nicht bloß zu sagen, dass manche Interpretationen sich durchgesetzt haben. Man sollte auch zeigen, warum dies so ist. Wenn es nicht die Realität selbst ist, was verleiht dann diesen Interpretationen ihre Stärke? Diese Fragen werden von den postmodernen Autoren entweder systematisch ignoriert oder sie werden tautologisch beantwortet, etwa folgendermaßen: Eine Interpretation setzt sich durch, weil sie sich als stärker erwiesen hat. Oder sie werden so beantwortet, dass die Frage bloß verschoben wird: Eine Interpretation siegt, weil sie sich besser in das Geflecht der anderen, vorherigen Interpretationen fügt. Was heißt hier „stärker“ und „besser“ und warum sind beide gelegentlich absolut unvorhersagbar, wie manche Entdeckungen der Wissenschaft oder politische Entwicklungen? Hier öffnet sich der tiefere Sinn der Frage Ecos an Nietzsche: Was stößt die Revolutionen des Weltbildes an? Genügt es, auf die Beschränktheit jeder Interpretation und ihr zweifelhaftes Prozedere im Gleichsetzen des Nicht-Gleichen hinzuweisen? Gibt es nicht Fälle (und die Geschichte des 20. Jahrhundert bietet hier einiges), wo eine gewagte, fast fantastische Gleichmacherei sich im Gegensatz zu der vorherigen Lebensweise gewaltsam durchgesetzt hat, und zwar dadurch, dass sie Millionen ‚Interpreten‘ überzeugt hat, so dass ebenso Millionen ihr Leben verlieren mussten? Woher kommt diese ungeheure Überzeugungskraft? Was verleiht einer Interpretation ihre Stärke, so dass sie sich als Tatsache gewaltsam durchsetzen und über Leben und Tod bestimmen kann? Mir scheint, auf diese entscheidenden Fragen gibt es bis heute keine befriedigende Antwort. Die Debatte um den Realismus und Antirealismus demonstriert immer aufs Neue unsere philosophische Ratlosigkeit in dieser Hinsicht.50 Und 50 Am Beispiel der besonders ausgewogenen und durchdachten Positionen wie jener Ecos sieht man diese Ratlosigkeit am besten, weil sie u. a. die Aussichtslosigkeit einer schlichten Dichotomie (entweder gibt es die Realität, die eindeutig identifizierbar ist, oder es gibt nur Interpretationen) zur Sprache bringt, auch gegen ihre eigenen Präferenzen. Auch von Seiten der Interpreta- Die Macht der Interpretation   561 wenn man den Antirealisten Recht geben soll, dass Tatsachen nur innerhalb der Interpretationswelten als solche verstanden werden können, so kann man auch dem Vorwurf der Realisten nicht entkommen, dass die Grenzen dieser ‚Welten‘ und die Gesetze ihrer Veränderungen von uns bisher weder beschrieben noch wahrgenommen wurden. Und selbst auf die Frage, ob es solche Gesetze überhaupt gibt oder hier vielmehr Zufall herrscht, gibt es keine Antwort. Ein kleiner Springquell kann eine Veränderung der Richtung eines Flusses verursachen; er kann aber auch bedeutungslos bleiben und sich dem Fluss bloß hinzufügen, ohne ihn stark zu verändern. Solche Interpretationen, die viele andere in sich aufnehmen, scheinen stärker zu sein; aber nicht immer: Das Flussgewässer kann sich immer weiter teilen, statt sich zu vereinheitlichen.51 Freilich kann man hier einen argumentativen und unter postmodernen Denkern nicht seltenen Sprung machen und auf gewisse Bedürfnisse hinweisen, deren Befriedigung einer Interpretation ihre Kraft verleiht. Ein solches Argument stellt jedoch eine starke Abweichung von der postmodernen Position dar. Ihm zufolge wären Bedürfnisse etwas Gegebenes, etwas, das der Realität gleichgesetzt sein sollte. Die Bedürfnisse sind jedoch selbst Frucht einer Interpretation und unterliegen demselben Hinterfragen: Wie kommt es, dass diese Interpretation sich durchgesetzt hat oder sich als unhaltbar erweist? Wie kommt es zur Veränderung dessen, was wir für real gehalten haben, wenn es sich auch bloß um die Realität der Bedürfnisse handelt? Man wird gewiss sagen, dass Essen zu den realen Bedürfnissen gehört. Aber man wird sehr unsicher, sobald es um das Maß des Konsums und seine konkrete Gestaltung, Regelmäßigkeit usw. geht. Und bei der Frage, ob der Besitz eines Computers oder Handys zu den realen oder dem imaginären Bedürfnissen gehört, wird das Problem unlösbar. Die Beantwortung der Frage ist selbst offensichtlich von vielen Interpretationen abhängig. Aber wenn wir diese Fragen nicht eindeutig beantworten können, können wir die Interpretationen, die zur Produktion solcher Geräte führen, nicht aus den Bedürfnissen erklären. Die Gesetze der Bewegung von Interpretationen bleiben uns verschlossen, und der Verdacht wächst, dass vielleicht keine Gesetze dahinterstecken, sondern das Ungleiche, das Okkasionelle, das Chaotische schlechthin. Aber auch wenn wir bisher keine Gesetze dafür feststellen konnten, wie Interpretationen an Kraft gewinnen, können wir sagen: Bei allen Veränderungen von Interpretationen, ob sie in dem entsprechenden Weltbild gut verankert tionsphilosophie wurden einige prominente Versuche gemacht, den Dualismus von ‚entweder … oder‘ zu überwinden (vgl. Abel 2004, 55 ff. u. 101 ff.). 51 So scheint gerade die moderne Physik die Hoffnung auf eine einheitliche Weltinterpretation aufgeben zu müssen (vgl. Gutschmidt 2009). 562   Ekaterina Poljakova sind oder es umgekehrt revolutionieren, wird das Feld der Realität neu bestimmt, d. h., die Horizontlinien der Realität, das Selbstverständliche und das Unmögliche werden verschoben. Es entsteht eine neue Konstellation dessen, was als wirklich, möglich und notwendig bzw. wirklich möglich und möglicherweise notwendig angesehen wird. Und für die Beschreibung dieser komplexen Konstellation gibt es ab der Neuzeit und bis hin zur Postmoderne einen Begriff, der keinesfalls als Lösung aller Probleme der Realität angesehen werden darf, sondern als ihre Bezeichnung, die der Instabilität und Ungleichheit der Interpretationen sowie der Heterogenität der Realität Rechnung trägt. Dieser Begriff ist ‚Macht‘. Macht über Interpretationen und Macht als Interpretation Das Machtargument hat unter den Realisten mehrmals Empörung ausgelöst.52 Dies ist, denke ich, noch ein Missverständnis. Keiner will damit das Wissen durch Herrschaft ersetzen, als ob beide feststünden und eins als Instrument des anderen missbraucht werden könnte. Vielmehr gilt: Indem wir nach der Realität fragen und sie als solche interpretieren, bringen wir unsere Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ängste mit hinein, die selbst als real oder fantastisch interpretiert und uminterpretiert werden. Wir wollen die Welt erkennen, sie jedoch so erkennen, dass unsere Bedürfnisse befriedigt und unsere Ängste gestillt werden, dass wir Macht über sie erlangen, dass die Dinge kontrollierbar werden und uns zur Verfügung stehen. Hier möchte man fragen: Warum wollen Realisten die Wahrheit über die Realität feststellen? Warum wollen sie den Interpretationen etwas Festes entgegensetzen? Eco macht daraus kein Geheimnis. Er will Garantien dafür, dass das Bekämpfen einer gewissen Krankheit nicht misslingen wird, wenn wir gewisse Mittel einsetzen. Er sucht nach Kriterien, die das Risiko des Misslingens verringen. Darum sieht er sich genötigt, das Sein in dem zu sehen, was uns zurückweist, was uns einen gewissen Umgang verbietet. Das Sein sei das, was sich den Versuchen, es unter Kontrolle zu bringen, widersetze. Es sei etwas, was sich uns durch Erfahrung unserer Ohnmacht ihm gegenüber als unverfügbar zeige. Macht und Ohnmacht im Umgang mit der Welt bestimmen hier das Kriterium des Realen. Genauso hat es das No-Wonder-Argument Putnams demonstriert. Der Erfolg der Wissenschaft ist ein Beweis ihrer Richtigkeit, keine Frage. Aber ‚Erfolg‘ bedeu- 52 Vgl. die Ausführungen „Trugschluss Wissen-Macht“ in Ferraris (2015), 54. Die Macht der Interpretation   563 tet in diesem Kontext gerade das, was Realisten zurückweisen – die technische Beherrschbarkeit mittels Vorhersagbarkeit. Er bedeutet das Verfügbar-Machen, seien es funktionierende Flugzeuge oder die Bekämpfung von Fieber. Das Feld der Realität wird mit dem umrissen, was ‚in unserer Macht steht‘. Und seine Grenzen sind die Grenzen ‚unserer Macht‘. Folglich ist das Unverfügbare des Seins nicht einfach mit der Realität gleichzusetzen. Auch die Verfügungskraft hält man für ein Zeugnis der Realität. Wenn es uns gelingt, manche Prozesse vorhersagbar zu machen bzw. unter Kontrolle zu bringen, halten wir dies für einen Beweis dafür, dass wir der Realität ihre Geheimnisse entrissen haben und ihr näher gekommen seien. Das ist kein Widerspruch: denn gerade, weil etwas in der Realität sich uns ständig widersetzt, können wir unsere Siege darüber als Annäherung an die Realität feiern.53 Es sei noch einmal betont: Die Macht, die die ‚Postmodernen‘ meinen, ist kein bloßes Streben nach Herrschaft. Wenn es um das Herrschen geht, dann ist es im Sinne der dominierenden Denkmuster zu verstehen, die die Realität bestimmen bzw. die Horizontlinien bilden, die das Realitätsfeld beschränken. Dieses ist kein Behälter der neutralen, unter sich gleichen Wahrheiten, sondern ein Kampfplatz. Und es ist nicht bloß der Kampf um das Durchsetzen der eigenen Weltinterpretation zum Zwecke der persönlichen Herrschaft. Solch ein Durchsetzen ist nur ein Extremfall. Die Erkenntnis ist ein viel globalerer und dramatischerer Kampf – der Kampf des Menschengeschlechts um die Annäherung an die Horizontlinien der Realität. Den Horizontlinien kann man sich nicht nähern: Indem man es versucht, verschieben sie sich immer weiter. Dieser Prozess ist jedoch nicht fruchtlos, das Werk der Erkenntnis ist keine Sisyphusarbeit. Denn indem wir von unseren scheinbar fruchtlosen Versuchen nicht ablassen können, die Horizontlinien der Realität zu erreichen, tun wir etwas, was von uns selbst als unmöglich angesehen wurde: Wir erweitern das Feld der Realität. Das Unmögliche wird wahrscheinlich und das Selbstverständliche wird fraglich; die Realität wird heterogener als je zuvor; und wir selbst merken, dass es unser Verdienst ist, dass wir die Realität tatsächlich ändern können, mehr noch, dass wir es bei jedem Atemzug tun müssen, dass es in unserer Macht steht, die Realität zu gestalten und sie zu bestimmen, auch 53 Diese Doppelseitigkeit der Macht kommt in den modernen wissenschaftstheoretischen Reflexionen zum Ausdruck. Bruno Latour spricht zwar nicht explizit von Macht, aber er versucht die Spaltung zwischen Realismus und Konstruktivismus dadurch zu überwinden, dass er zeigt: In der Wissenschaft handle es sich um die Versuche, die ‚Dinge‘ unter Kontrolle zu bringen, die auch und gerade im Scheitern einflussreich seien; sowohl das erkennende Subjekt als auch seine Objekte stünden dabei nicht fest, sondern veränderten sich gegenseitig (vgl. Latour 2000, 107–123). 564   Ekaterina Poljakova wenn wir dabei immer wieder unsere Schwäche und unsere Ohnmacht erfahren, auch wenn diese Macht uns selbst ein Rätsel bleibt. Hier darf man nicht unerwähnt lassen, dass Macht in der postmodernen Fassung keine ontologische Größe ist. Sie ist auch keine Erklärung für die Stärke einer Interpretation, weder für ihre Kraft noch für das Maß ihrer Realität. Macht ist nur eine Bezeichnung für das Rätsel, vor dem wir alle stehen: dass die Interpretationen sich nicht gleich sind, dass sich unter ihnen stärkere und schwächere befinden und dass wir oftmals nicht wissen, worin ihre Stärke oder ihre Schwäche liegt.54 Ich würde sogar sagen: ‚Macht‘ ist der Name für die Situation, die durch unsere Machtlosigkeit angesichts der undefinierbaren Grenze zwischen einer starken und einer schwachen Interpretation, und das heißt, zwischen dem Mehr oder Weniger an Realität, gekennzeichnet ist. Eine solche Bezeichnung hat jedoch einen großen Vorteil. Sie lässt uns diese Grenze in ihrer Beweglichkeit anerkennen, ohne ihre Härte zu leugnen. Sie lässt uns auch dem Befund Rechnung tragen, dass es mehr oder weniger reale Interpretationen gibt, und dass der Gegensatz des Realen und Nicht-Realen kein binärer, kein scharfer Gegensatz ist. Und dies nicht nur, weil Macht sich als kleinere und größere Macht unterscheiden lässt, nicht nur, weil solche Extreme wie Ohnmacht und Allmacht als ebenso unerreichbare Horizontlinien erscheinen. Die Berufung auf Macht destabilisiert die Idee der Realität, weil der Machtbegriff gerade für die Möglichkeit steht, die Grenze zwischen dem Realen und Nicht-Realen zu verschieben. Sie steht dafür, dass eine Interpretation aus der bloßen Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeht, dass sie der Realität aufgedrängt werden kann.55 Die Grenzen der Macht sind somit die Grenzen der Realität, jedoch der Realität, die von den Interpretationen durchdrungen ist, die sich ständig zwischen dem Selbstverständlichen und dem Unmöglichen verschieben. Die Macht ist gewiss eine Interpretation. Wenn eine Interpretation sich in der Vergangenheit als mächtig erwiesen hat, garantiert ihr nichts, dass sie sich in Zukunft nicht auflösen wird, so dass auch die Vergangenheit im Licht einer neuen Interpretation sich verändern muss. So macht alles Scheitern die vorherigen Erfolge zunichte; dagegen kann ein Erfolg vorherige Misserfolge in Vorstufen und Vorzeichen eines zukünftigen Siegs umdeuten. Unsere Ambitionen, eine 54 Vgl. den Gedanken Abels, dass es kein Rätsel mehr gebe, und wenn doch, es dann darin bestehe, „daß die diese Welt ausmachenden Kräfte-Relationen und Interpretationen in ihren Vollzügen unerbittlich das sind, was und wie sie sind“ (Abel 1984, 319, Hervorh. im Orig.). 55 Die begriffshistorische Dimension ist hier besonders reichhaltig. Auf das Problem ging schon Aristoteles ein bzw. sein Konzept von Vermögen (dynamis), das später als Macht (potentia) übersetzt wurde, weist darauf hin (vgl. metaph. IX, 3, 1047a). Die Macht der Interpretation   565 endgültige Wahrheit zu finden, zeigen sich somit als gescheitert. Aber auch der Anspruch auf unendliches Uminterpretieren muss immer wieder in eine Sackgasse führen. Denn die Bezeichnung ‚Macht‘ entlastet uns gewiss nicht davon, die Grenze der Interpretierbarkeit ernst zu nehmen; sie kann nicht mit einer bloßen Berufung auf die offene Zukunft abgetan werden. Auch wenn sie nur auf Zeit gilt, so ist doch noch zu fragen, was ihr ihre Macht für diese Zeit verleiht.56 Der Machtbegriff dient keiner Erklärung dessen, was die Realität ausmacht; aber er dient der Beschreibung der Beweglichkeit der Realität und der Instabilität ihrer Härte. Wenn man die Realität mit dem Machtbegriff beschreibt, bekennt man sich zu einer gewagten Weltinterpretation: Nicht nur das Selbstverständliche, auch den Nullpunkt der Realität, das Unmögliche, kann man umdefinieren. Faktisch tut die Wissenschaft auch nichts anderes. Sie versucht die Horizontlinie des Unmöglichen nicht nur im Denken zu erreichen, sondern mit Technik und Medizin über sie hinauszugehen. Dadurch verschiebt sie die Horizontlinie des Unmöglichen, bis wir die unüberbietbare Grenze aller Interpretationen und unserer Macht ihnen gegenüber erreichen – den Tod. Tod als Grenze der Interpretation Der Tod steht für unsere vollkommene Ohnmacht, über das Unmögliche hinauszukommen. Eco spricht in diesem Zusammenhang von der „Erfahrung des Todes“ als von der absolut unüberbietbaren Grenze, der „gegenüber sich alle Sprache in Stille auflöst“57. Dies stimmt nicht ganz, und Eco sollte es sicherlich wissen: Die Sprache der Mythen und Religionen wird sich hier nicht auflösen, sondern erst beginnen. Das Geschehene ungeschehen zu machen ist das Vorrecht der Götter. Diese mythologischen Erzählungen, die jahrhundertelang das Menschenleben in vielen Hinsichten bestimmt haben, ziehen wir heute bei der Debatte nicht mehr in Betracht. Der Tod scheint für uns einen festgelegten Horizont aller unserer Bemühungen zu markieren: Er kann nicht anders verstanden werden. Und nicht nur der Tod: Alles, was unwiderruflich geschehen ist, alles, was niemals rückgängig gemacht werden kann, folgt (wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad) dieser Logik des Todes, sei es ein unwiderruflich geschädigtes Körperglied, eine 56 Hier kann ich mich nicht mit den klassischen Theorien der Macht auseinandersetzen, stütze mich aber vor allem auf Luhmanns Kritik wie in Luhmann (2013) u. ders. (1969). Zu meiner Auseinandersetzung mit Luhmanns Kritik der klassischen Machttheorien und seiner eigenen Theorie der Macht vgl. Poljakova (2016). 57 Eco (2015), 46. 566   Ekaterina Poljakova zerbrochene Puppe oder ein Weinfleck auf einem wichtigen Dokument. Es sind solche Erfahrungen der grundsätzlichen Zerstörbarkeit, die uns von der Realität überzeugen, die hartnäckiger ist als alle unsere Bemühungen. Der Tod ist gewiss auch eine Tatsache, die ohne Interpretation nicht funktioniert. Aber er ist eine unüberbietbare Grenze, die weiteres Uminterpretieren verbietet und die Grenzen unserer Macht deutlich markieren lässt. Hier möchte ich die Position Quentin Meillassoux’ in die Diskussion einbeziehen, der eine absolut kontingente Realität jenseits der metaphysischen Prämissen nachweisen will. Ohne zu sehr im Detail auf Meillassoux’ elaborierte Argumentation einzugehen, möchte ich nur auf einen Punkt aufmerksam machen, der für seine Widerlegung des Antirealismus entscheidend ist. Meillassoux spricht nicht von den Interpretationen, sondern von dem Korrelationsargument, das er, ähnlich wie die Neurealisten, von Kant bis in die Postmoderne nachverfolgt. Dem Korrelationsargument zufolge kann die Welt immer nur von einem jeweiligen Standpunkt erkannt werden und alle Erkenntnis hängt wesentlich von einem jeweiligen Standpunkt ab. Meillassoux nennt dies den Korrelationszirkel, den man jedoch seiner Meinung nach – und entgegen jener der postmodernen Denker  – überwinden könne. Der Zirkel hat nämlich eine Bedingung, die einerseits unausweichlich ist, andererseits für den Zirkel zerstörerisch: Das ist die Kontingenz des Zirkels selbst, die auch die Möglichkeit seiner Nicht-Existenz bedeutet. Konkret heißt das: Indem der eigene Standpunkt und damit jede Weltansicht als kontingent beurteilt werden, muss die Möglichkeit immer in Betracht gezogen werden, dass es diesen Standpunkt nicht gibt bzw. dass er immer durch andere ersetzt werden kann. Dies bedeutet jedoch, dass man die Realität außerhalb des Standpunktes doch immer, wenn auch nur auf diese negative Art und Weise, mitdenkt. Meillassoux’ Beweis dafür ist u. a., dass man den eigenen Tod, die Nicht-Existenz der eigenen Wahrnehmung, denken kann und dies sogar muss, um den Widerspruch im Korrelationszirkel zu vermeiden.58 Aber kann man sich tatsächlich die Nicht-Existenz des eigenen Standpunktes vorstellen? Was hieße hier ‚vorstellen‘, ‚begreifen‘ oder ‚wahrnehmen‘? Man kann sich gerade nicht vorstellen, dass man sich nichts vorstellt – denn indem man es tut, stellt man sich doch etwas vor. Der eigene Tod ist deshalb gerade nicht vorstellbar. Den Tod kann man nur nach einer Analogie denken. Diesen entscheidenden Unterschied kann man am besten an jenem Beispiel zeigen, das Heidegger für seine Zwecke in Sein und Zeit eingesetzt hat, nämlich an Lew 58 Vgl. Meillassoux (2008), 59, u. ders. (2014), 23. Die Macht der Interpretation   567 Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch.59 Sie handelt von einem Mann, der ein durchschnittliches, normales Leben geführt hat, der berufstätig war, geheiratet hat und Vater wurde, nun krank geworden ist und sterben muss. Tolstoi zeigt jedoch meisterhaft das Nicht-Triviale dieser Geschichte: Iwan Iljitsch kann nicht begreifen, dass er sterben muss. Denn er kennt den Tod nur als „[j]enes Beispiel eines Vernunftschlusses, das er in der Logik […] gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, folglich ist Cajus sterblich“. Das „war ihm sein Leben lang richtig erschienen, aber nur in Bezug auf Cajus, durchaus nicht in Bezug auf sich selber“. Jener war der Mensch Cajus, ein Mensch im allgemeinen, und das war vollkommen gerecht; aber er war nicht Cajus und nicht ein Mensch im allgemeinen, er war stets ein ganz, ganz besonderes Wesen, anders als alle anderen gewesen; er war doch Wanja gewesen, mit Mama, mit Papa, mit Mitja und Wolodja, mit seinem Spielzeug, mit dem Kutscher, der Kinderfrau, dann später mit Katenka, mit allen Freuden, Kümmernissen, Wonnen der Kindheit und der Jugend. Hatte denn Cajus jenen Geruch des gestreiften Lederballs gekannt, den Wanja so sehr liebte? Hatte denn Cajus die Hand seiner Mutter geküßt, und hatten etwa für Cajus die Falten von Mutters Seidekleid gerauscht? […] Und Cajus war wirklich sterblich, und folglich mußte er sterben, aber für mich, für Wanja, für Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen, Gedanken – für mich ist das etwas ganz anderes. Und es kann nicht sein, dass ich sterben muß.60 Das Geräusch der Falten eines Kleides, den Geruch des gestreiften Lederballs kann man sich vorstellen, jedoch nicht den eigenen Tod. Die eigene Nicht-Existenz ist eine abstrakte Idee, der man im Allgemeinen zustimmt, die man in Bezug auf sich selbst jedoch nicht begreifen kann. Damit wäre das postmoderne Argument wieder gegen alle Widerlegungen bestätigt: Man könnte sich die Realität ohne eigenen Standpunkt niemals vorstellen; die eigene Kontingenz wäre nur abstrakt denkbar; es gäbe folglich keinen Weg, der aus dem Korrelationszirkel nach ‚draußen‘ führt. Dennoch zu sagen, dass die eigene Kontingenz bloß eine abstrakte Idee sei, bedeutete, den existenziellen Sinn des Todes gerade zu verfehlen. Meillassoux sagt uns nichts darüber.61 Doch beide, Tolstoi und Heidegger, der sich an dieser Stelle auf den russischen Schriftsteller beruft, haben es gezeigt. Man kann sich zwar nicht vor- 59 Heidegger ging es um „das Phänomen der Erschütterung und des Zusammenbruchs des ab­ strakten ‚man stirbt‘“ (vgl. Heidegger 1977, 337). 60 Tolstoi (2001), 88–89 (Hervorh. im Orig.). 61 Meillassoux bleibt bei der Feststellung des Widerspruchs bei den sog. Korrelationisten und will sie mit seiner Idee der Hyper-Kontingenz überbieten (vgl. Meillassoux 2008, 60 ff.) 568   Ekaterina Poljakova stellen, dass man nicht da ist und nichts mehr wahrnimmt. Aber man kann es indirekt erleben – durch Angst und Schrecken, die die angeblich abstrakte Idee des Todes uns bereitet. Mehr noch: Jedes Mal, wenn wir Angst empfinden bzw. wenn wir um unsere Existenz auf ernsthafte Art und Weise besorgt sind, meldet sich der Tod und damit die eigene Kontingenz, die wir nicht begreifen, jedoch in diesem merkwürdigen Modus der Angst erleben können. Iwan Iljitsch kämpft gegen den Tod, gegen die Möglichkeit des Todes selbst. Tolstoi zeigt, wie dramatisch und aussichtslos dieser Kampf ist. Nur wenn man ihn aufgegeben hat, kann man auch die Angst überwinden und sich des Lebens freuen. Iwan Iljitsch gelingt es, freilich erst in dem Moment, da er tatsächlich stirbt. Der eigene Tod ist uns nicht gegeben, wie Wahrnehmungen uns gegeben sind. Gerade deshalb scheint der Tod, der allem Geschehen innewohnt, ungeheuer mächtig und absolut real zu sein. Die Beispiele des Tatsächlichen, die vom Tod handeln, sind immer unschlagbar. Der Tod scheint die Grenze zu markieren, an der wir die von unseren Wahrnehmungen unabhängige Realität berühren können, im Modus des Unverfügbaren, das uns in Angst versetzt. Hier wird es jedoch wieder wichtig, nicht von Wahrnehmungen zu sprechen, die das Gegebene als ‚für uns gegeben‘ von der Realität ‚an sich‘ radikal zu trennen scheinen. Hier müssen wir wieder von den Interpretationen sprechen, die das Gegebene für uns bedeutsam machen, die ihm einen Sinn verleihen und immer wieder Wege öffnen, dies auf eine andere, neue Art und Weise zu tun. Der Tod scheint deshalb absolut real zu sein, weil er sich auch trotz seiner Unvorstellbarkeit – zumindest was den eigenen Tod betrifft – immer wieder bestätigt, als eine unheimliche Möglichkeit, die zwar nicht wahrnehmbar, jedoch völlig real ist. Doch unser Entsetzen dieser Möglichkeit gegenüber zeigt auch, dass wir sie nicht wirklich akzeptieren können. Nicht die absolute Kontingenz, wie Meillassoux es unterstellt, sondern die absolute Sinnlosigkeit droht uns mit dem Tod. Dieser unheimlichen Möglichkeit setzen wir alle unsere Interpretationen entgegen. Mehr noch: Wir fühlen uns genötigt, uns ihr mit allen neuen Sinngebungen und Umdeutungen zu widersetzen. Wenn das Leben selbst eine Interpretation ist, wie Nietzsche es gesehen hat, so heißt dies vielleicht auch, dass jede Interpretation als Widerstand dem Tod gegenüber zu verstehen ist, dem Tod als Ende der Interpretierbarkeit. Wenn auch hier eine Umdeutung möglich wäre, wenn auch der Tod zum Zeichen des Lebens uminterpretiert werden könnte, hätten wir gesagt, dass dies das Zeugnis einer Macht ist, über die hinaus zu denken uns nicht möglich ist – die Macht über das Unmögliche, das jeder Realität innewohnt. Die Macht der Interpretation   569 Eine negative Bilanz? Wir haben die Frage Ecos folgendermaßen umformuliert. Sie lautet nicht mehr: Was ist der harte Kern des Seins bzw. was sind die Kriterien, die die Wahrheit der Aussagen öffentlich prüfen lassen und ihre Richtigkeit garantieren? Wenn es keine von den Interpretationsgeflechten unabhängigen Tatsachen gibt und der Unterschied zwischen einer Tatsache und einer Interpretation nicht radikal ist, sondern die Grenze zwischen ihnen immer wieder verschoben werden kann und tatsächlich verschoben wird, so lässt sich Ecos Frage neu stellen: Was macht Interpretationen stärker und somit realer? Woher kommt die Kraft, die sie sich zwischen zwei Extremen verschieben lässt – der Unmöglichkeit und der Selbstverständlichkeit? Auf diese Frage gibt es bis heute keine Antwort.62 Das Problem lässt sich jedoch schärfer fassen, wenn wir nicht von Interpretationen, aber auch nicht von Realität sprechen, sondern von der Macht, eine Interpretation in die Realität zu setzen. Damit ist keine ontologische Größe eingeführt, nichts, was das Sein ersetzte. Das ist nur eine Beschreibung, die das Rätsel des Realen m. E. besser auffassen lässt als ein schlichter Gegensatz von Interpretationen und Tatsachen. Zwei Aspekte des Problems werden dabei sichtbar: Zum einen steht Macht für die Instabilität und die Nicht-Homogenität der Realität, für ihre Beweglichkeit. Zum anderen ist die Machtzuschreibung eine Interpretation, die die Realität zwar auf bestimmte Art und Weise darstellt, jedoch keinen Anspruch erheben kann, entweder eine endgültige zu sein oder der Realität gleichgesetzt zu werden; denn ihre Realität ist selbst zweifelhaft und steht immer wieder in Frage. Und dennoch: Bleibt die Grenze des endgültig Unmöglichen, unsere Macht und Ohnmacht ihr gegenüber, für uns nicht ein Rätsel? Der Streit der Realisten und Antirealisten demonstriert immer wieder aufs Neue, dass wir uns damit nicht abfinden können, diesen uns nächsten Unterschied zwischen mehr oder weniger Realität, zwischen dem Selbstverständlichen und Unmöglichen, nicht besser beschreiben zu können. Denn dieses Nicht-Können ist unsere Erfahrung der Ohnmacht dem Realitätsproblem gegenüber, die zu leugnen genauso aussichtslos zu sein scheint, wie es kurzsichtig wäre, sie zu begrüßen. Diese Erfahrung stellt eine 62 Streng genommen gibt es viele Antworten wie transzendental-pragmatische oder historischhermeneutische. Dennoch kann die Frage damit keinesfalls als gelöst eingestuft werden. Aktualisiert wird sie u. a. in Diskussionen um den Konstruktivismus. Die Heftigkeit der letzteren zeigt, dass eine Lösung nicht in Sicht ist. So beschreibt Latour diese Diskussionen als Kriege und schlägt eine Art Friedensvertrag vor, aus dem hervorgeht, dass auch er (und mit ihm die sog. Science and Technology Studies) keine Lösung dafür hat, wie man gute von den schlechten bzw. starke und tragfähige von den schwachen und hinfälligen Interpretationen unterscheiden sollte, was ihm allerdings durchaus bewusst ist (vgl. Latour 2003). 570   Ekaterina Poljakova Herausforderung für jeden ernsthaften Denker dar, die er nicht ablehnen kann, auch wenn er sich ihr nicht gewachsen fühlt. Auch in dieser Hinsicht sind unsere Versuche, der Realität näher zu kommen und sie zu zwingen, uns ihr Geheimnis zu verraten, die Proben unserer Macht und Prüfungen ihrer Realität. Literatur Abel, G. (1984), Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin u. New York. Abel, G. (2004), Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt am Main. Albert, H. (1994), Kritik reiner Hermeneutik. Der Antirealismus als Problem des Verstehens, Tübingen. Arendes, L. (1992), Gibt Physik Wissen über die Natur? Das Realismusproblem in der Quantenphysik, Würzburg. Aristoteles, Metaphysik [metaph.]. Demmerling, C. (2004), Realismus und Antirealismus. Zur Anatomie einer Debatte, in: Halbig/ Suhm (2004), 29–48. Dummett, M. (1969), The Reality of the Past, in: Proceedings of the Aristotelian Society 69, 239–258. Dummett, M. 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