Juristische Rundschau; 2017(8): 405–413 Abhandlung Prof. Dr. Christian Fahl* Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette während des Unterrichts zu verbieten? https://doi.org/10.1515/juru-2017-0052; I. Einleitung Jüngst hat ein Urteil des AG Neuss1 gegen einen Musiklehrer für Aufsehen gesorgt, der seine Klasse, nachdem diese – wie die Schüler im Prozess einräumten – »Faxen« gemacht     1 AG Neuss, Urt. v. 24. 08. 2016 – 12 Ds 333/16, BeckRS 2016, 16947.       hatte und laut gewesen war, zur Strafe zuerst einen Wikipedia-Text über den Geiger Paganini abschreiben ließ und dann diejenigen, die damit nicht fertig geworden waren, am Verlassen des Klassenraumes hinderte. Während Schüler (und Eltern) noch in den 90er Jahren solche Maßnahmen zur Disziplinierung vermutlich akzeptiert hätten, griff einer der Sechstklässler heute zum (selbstverständlich einsatzbereiten) Handy und informierte die Polizei. Der Amtsrichter sprach, wie es Richter häufig tun, wenn sie das Gefühl haben, dass einem Freispruch die gesellschaftliche Akzeptanz fehle und Strafe irgendwie sein müsse,2 eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB aus.   *Kontaktperson: Christian Fahl, der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Greifswald. 2 Vgl. Fahl, JR 2011, 338, 339 (Fall Daschner). Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten 406 Rechtlich betrachtet geht es hier – wie bei dem Verbot der Toilettenbenutzung während des Unterrichts – um eine Frage der Sozialadäquanz, also desjenigen rechtfertigenden oder tatbestandseinschränkenden3 – jedenfalls aber tatbestandsübergreifenden – Gesichtspunkts, demzufolge Handlungen, die sich »innerhalb der geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen«,4 keine Straftat darstellen. Obwohl sogar vom Bundesgerichtshof gelegentlich herangezogen,5 hat sich die »Lehre von der Sozialadäquanz« freilich bisher nicht recht durchsetzen können – nicht bei der Strafbarkeit der Annahme von Verteidigerhonoraren,6 nicht bei der Strafbarkeit von männlichen Beschneidungen.7 Ob der Lehrer den Schülern den Toilettengang während des Unterrichts verbieten darf, wird seit einiger Zeit unter Lehrern, Schülern und Eltern heftig diskutiert. Was noch vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich war, dass man nämlich dazu die dafür vorgesehenen Pausen zu benutzen hatte,8 wird von Schülern und ihren rechtlich beratenen Eltern zunehmend in Zweifel gezogen. Dem Harndrang nicht nachgeben zu dürfen, so ist im Internet zu lesen, sei nicht nur schmerzhaft, sondern auch eine vom nationalen und internationalen Recht verbotene, grausame und unmenschliche Behandlung, die einer Folter gleichkomme.9 Gedanklich ist zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass der Jugendliche oder das Kind infolge des Verbots –             3 Vgl. Fahl/Winkler, Meinungsstreite, Strafrecht AT und BT/1, 3. Aufl. 2015, Vor § 1 Rn. 15; s. auch LK-Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 48; NK-Paeffgen, 4. Aufl. 2013, Vor § 32 Rn. 28 ff. 4 So Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 1947, S. 35 – zit. bei Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 33; s. auch Wessels/Beulke/ Satzger, Strafrecht, AT, 46. Aufl. 2016, Rn. 79, 258; Heinrich, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2016, Rn. 519. 5 Vgl. BGHSt 23, 226, 228: Danach können »nach der ›Lehre von der Sozialadäquanz‹ übliche, von der Allgemeinheit gebilligte und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige, weil im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegende Handlungen nicht tatbestandsmäßig oder zumindest nicht rechtswidrig sein«. 6 Siehe dazu Fahl, Jura 2004, 160, 163; dens., JA 2004, 624, 625; dens., JA 2004, 796, 799. 7 Siehe dazu Fahl, Beulke-FS, 2015, S. 81 ff. m. w. N. 8 Der Fall, von dem im Internet berichtet wird, dass Schülern verboten wurde, (auch) in der Pause die Toiletten zu besuchen – weil dort geraucht oder anderen illegalen Aktivitäten nachgegangen wird – soll hier ausgeklammert bleiben. 9 Vgl. etwa https://www.anwalt.de/rechtstipps/schulrecht-toiletten verbot-an-der-schule-rechtmaessig_060575.html; https://www.an walt.de/rechtstipps/schulrecht-toilettenverbot-fuer-schueler-und-stu denten_000191.html – dort auch zu einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft, wonach das Verbot von Toilettengängen nicht strafbar sei.                                                     von der Klasse bemerkt oder unbemerkt – einnässt, und dem Fall, dass das ausgesprochene Verbot nur dazu führt, dass der Toilettengang verschoben werden muss. Ob den Schülern in den »guten alten Zeiten« der Gang auf die Toilette wirklich auch dann versagt wurde, wenn ein Kind einen nicht mehr zu bekämpfenden, dringenden Harndrang (oder eine Durchfallerkrankung) geltend machte, darf bezweifelt werden. Es mag zur Disziplinierung von Grundschülern vorgekommen sein, dass Lehrer ein Kind gezwungen haben einzunässen statt die Toilette zu besuchen. Solche Erziehungsmethoden sind heute gewiss nicht mehr zeitgemäß und würden dann, wenn etwa die Eltern sie bei einer längeren Autofahrt anwendeten, damit die Kinder beim nächsten Male nicht vergäßen, vorher die Toilette zu besuchen, auch gegen § 1631 Abs. 2 BGB (Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung; Unzulässigkeit anderer entwürdigender Maßnahmen) verstoßen.10 Was die Eltern zur Erziehung ihrer Kinder (familienrechtlich) nicht tun dürfen, können sie auch auf den Lehrer nicht delegieren.11 Auf der anderen Seite ist es unbestreitbar nötig, die Kinder dazu zu erziehen, vorsorglich Toiletten aufzusuchen und im Übrigen den Harndrang so zu kontrollieren, wie das von erwachsenen Mitgliedern der Gesellschaft erwartet wird. Dazu gehört auch, dass man die Toilette während des Startes und der Landung eines Flugzeuges,12 früher auch die Zugtoilette während des Aufenthalts an Bahnhöfen, nicht aufsuchen darf. Bei zahlreichen anderen Gelegenheiten, wie bei Kino- oder Theaterbesuchen oder bei dem Besuch von Vorlesungen, besteht zwar kein Toilettenbenutzungsverbot, aber es bestehen gesellschaftliche Sitten, denen zufolge man sich, aus Gründen der Rücksichtnahme auf andere, außerhalb der vorgesehenen Pausen eine gewisse Selbstbeschränkung aufzuerlegen hat oder, wie in der Oper, erst zur Pause wieder zurückkehren darf. Zu bedenken ist auch, dass es vielen Schülern bei ihrem Verlangen, während des Unterrichts die Toilette besuchen zu dürfen, häufig nur auf die dadurch entstehende Störung des Unterrichts ankommt und in Wahrheit gerade       10 Vgl. Palandt-Götz, BGB, 75. Aufl. 2016, § 1631 Rn. 5, 7. Das werden die Eltern freilich schon im eigenen Interesse (Geruchsbelästigung, Schädigung der Fahrzeugsitze) nicht tun. Zur Strafbarkeit eines solchen Verhaltens s. u. im Text II.1. 11 Palandt-Götz (Fn. 10), § 1631 Rn. 5. 12 Vor kurzem ging durch die Zeitungen, dass der französische Schauspieler Gerard Depardieu, nachdem ihn die Stewardess an der Benutzung der Bordtoilette während des Startes gehindert hatte, kurzer Hand in den Gang urinierte (und dann aus dem Flugzeug entfernt wurde). – Zur Verhinderung des Verlassens eines Flugzeugs durch das Kabinenpersonal s. Fahl, JR 2009, 100 ff.                   Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten kein unaufschiebbares Bedürfnis besteht. Seit während des Unterrichts Handyverbote bestehen,13 kann auch die Handybenutzung – Teilnahme an den sozialen Medien – ein Motiv für den Toilettengang sein, was der Lehrer (aus seiner Erfahrung in der Vergangenheit heraus) zwar mit einigem Recht vermuten, aber auch nicht sicher wissen kann. All dem wird die strafrechtliche Lösung Rechnung zu tragen haben. 407 Der Tatbestand der (einfachen) Körperverletzung – für einen (verbeamteten14) Lehrer kommt sogar das Sonderdelikt der sog. Körperverletzung im Amt in Frage15 – kennt zwei (gleichwertige) Alternativen, die der körperlichen Misshandlung (§ 223 Abs. 1, 1. Alt. StGB) und die der Gesundheitsschädigung (§ 223 Abs. 1, 2. Alt. StGB). Unter letzterem versteht man gemeinhin das Hervorrufen, Steigern oder Aufrechterhalten eines krankhaften (pathologischen) Zustands.16 Nun mag das Harnverhalten zu einem Blasenriss (und damit zu einem pathologischen Zustand) führen,17 das heißt aber noch nicht, dass schon das Harnverhalten ein solcher Zustand ist. Selbst wenn es zum Einnässen kommt (s. dazu noch unten), so ist dies kein krankhafter Zustand, sondern von der körperlichen Seite her eher das Gegenteil, indem ein sonst drohender krankhafter Zustand (Blasenriss) verhindert wird.18 Fraglich ist aber, ob es sich um eine körperliche Misshandlung handelt (§ 223 Abs. 1, 1. Alt. StGB), dem Schüler den Toilettengang trotz einsetzenden Harndranges zu verbieten. Nach der gängigen Definition der körperlichen Misshandlung besteht diese in einer »üblen und unangemessenen Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt«.19 Als Ansatzpunkte für eine tatbestandseinengende Auslegung kommen damit die Erheblichkeit der Beeinträchtigung sowie die (Übel- und) Unangemessenheit der Behandlung in Betracht. Nicht jede Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens – soweit eine solche überhaupt vorliegt und nicht nur vom Schüler vorgeschoben wird, um etwa auf der Toilette ungestört Mails »checken« zu können – ist bereits erheblich. Ab einer gewissen Grenze ist aber unbestreitbar, dass die infolge Harnverhaltung einsetzende körperliche Beeinträchtigung durchaus »erheblich« sein kann.20 Zu klären bleibt, ob es sich bei dem Toilettenverbot zur Verhinderung von Unterrichtsstörungen um eine »üble und unangemessene Behandlung« handelt. Manche Stimmen in der Literatur stören sich jedoch an diesem alt hergebrachten Teil der Definition.21 Er stamme aus einer Zeit, da die Lehre von der objektiven Zurechnung noch nicht entwickelt war und suggeriere, dass neben den Verletzungserfolg »nicht bloß unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens« ein besonderer Handlungsunwert aufgrund »übler, unangemessener Behandlung« treten müsse.22 Tatsächlich sei es aber unmöglich, dieses Definitionsmerkmal mit einem Inhalt zu füllen, der 13 Von manchen Schülern gewiss auch als grausame und unmenschliche Behandlung empfunden. 14 § 11 Abs. 1 Nr. 2 a StGB. 15 Privatschulen sind nach h. M. keine Behörden i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 c und 7 StGB und Lehrer an solchen Schulen keine Amtsträger, vgl. OLG München, NJW 2008, 1174; Schönke/Schröder-Eser/Hecker, StGB, 29. Aufl. 2014, § 11 Rn. 24. 16 Statt vieler Fahl/Winkler, Definitionen und Schemata, Strafrecht, 6. Aufl. 2015, § 223 Rn. 2. 17 Im Film »Der Schüler Gerber« behauptet ein Schüler auf die Weigerung des Lehrers hin, ihn zur Toilette gehen zu lassen: »Tycho de Brahe ist an Harnverhaltung gestorben.« Der Lehrer antwortet: »Es ist noch nie jemand an Harnverhaltung gestorben.« – Der Schüler bezieht sich auf Gerüchte, der berühmte Astronom (1546-1601) sei an einem Blasenriss nach übermäßigem Ignorieren des natürlichen Harndranges während eines Festbanketts gestorben. 18 Soweit im Internet auf die mit dem Einnässen möglicherweise verbundenen psychosomatischen Folgeerscheinungen wie Angst und Verlust der Selbstachtung abgestellt wird, müssen diese Folgen, so sie denn objektiv überhaupt Körperverletzungen darstellen, (zumindest eventualiter) vom Vorsatz des Lehrers umfasst sein, sonst käme nur Fahrlässigkeit in Frage, s. zu beidem noch unten im Text. Liegt freilich ein diesbezüglicher Vorsatz vor, so kommt, auch wenn die genannten Folgen nicht eintreten, noch immer Versuch in Betracht (§ 223 Abs. 2 StGB). 19 Siehe wiederum statt vieler nur Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 223 Rn. 1. – Entgegen landläufiger Ansicht gehören »Schmerzen« nicht notwendig zur Definition der Körperverletzung (BGH NJW 1995, 2643), diese können aber ein (gewichtiges) Indiz für das Vorliegen einer körperlichen Misshandlung sein, vgl. MK-Joecks, StGB, 2. Aufl. 2012, § 223 Rn. 13 ff.; s. auch Fahl/Winkler, Meinungsstreite, Strafrecht, BT/2, 3. Aufl. 2015, § 223 Rn. 3; zur Situation bei § 225 StGB s. u. im Text II.5. 20 Zur Strafbarkeit nach §§ 223, 340 StGB wäre freilich noch erforderlich, dass der Lehrer das Überschreiten dieser Bagatellgrenze (subjektiv) zumindest für möglich gehalten und nicht etwa darauf vertraut hat, der Schüler werde sich in diesem Falle melden oder sich über das Verbot hinwegsetzen. Andernfalls kommt – das Vorliegen eines wirklichen und nicht nur vorgeschobenen Harndranges noch immer vorausgesetzt – nur fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) in Betracht (zu dieser Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit Fahl/Winkler, AT [Fn. 3], § 15 Rn. 4). 21 Vgl. schon RGSt 19, 136, 139. 22 MK-Joecks (Fn. 19), § 223 Rn. 27.     II. Die einzelnen Delikte         1. Körperverletzung (§§ 223, 340 StGB)                                                                                                         Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten 408 nicht schon Gegenstand der Erheblichkeit der Beeinträchtigung oder der objektiven Zurechnung sei. Damit wird jedoch die Sozialadäquanz (siehe oben I.) eines ihrer wichtigsten Einfallstore in den BT23 beraubt – es sei denn, man verbannte diese in die freilich nicht weniger umstrittene24 objektive Zurechnung. Die Probleme dabei blieben freilich die nämlichen.25 Wenn aber auch dies abgelehnt wird, dann wird es schwer, die Körperverletzung noch zu verneinen.26 Im Falle des Flugreisenden, der nach dem Schließen der Kabinentür plötzlich das Flugzeug verlassen will, habe ich mit der Unwiderruflichkeit der Einwilligung operiert.27 Das erscheint hier aber – von der Einwilligungsfähigkeit ganz abgesehen28 – schon deshalb schwierig, weil es hier nicht um Freiheitsberaubung (s. dazu unten II.3.), sondern um Körperverletzung geht. Richtigerweise ist eine noch als »angemessen« zu beurteilende, nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens – als sozial adäquat – aus dem Tatbestand auszuscheiden. Als Vorbild für dieses Vorgehen kann die in erzieherischer Absicht abgegebene, elterliche Ohrfeige dienen. Nach dem Fortfall des – einstmals sogar auch Lehrern zugebilligten29 – körperlichen Züchtigungsrechts als Rechtfertigungsgrund durch § 1631 Abs. 2 BGB ist ein Teil der Literatur dazu übergegangen, das Problem – durch eine verfassungskonforme Auslegung anhand von Art. 6 GG – auf Tatbestandsebene zu lösen30 und die vom Erziehungsrecht gedeckte Ohrfeige als »angemessen« zu bezeichnen.31 Damit hängt alles an der Frage der Angemessenheit – und der Einordnung der Behandlung als »übel«, der da                          23 Etwa bei der Beschneidung Fahl, Beulke-FS, 2015, S. 81 ff.; zur elterlichen Ohrfeige aus erzieherischen Gründen sogleich im Text. 24 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 249; Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), Vor § 1 Rn. 7 (die »Sozialadäquanz« ist im Übrigen auch keine der dort genannten, anerkannten »Fallgruppen«). 25 So richtig Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, BT, 3. Aufl. 2015, § 6 Rn. 10, wonach in vielen alltäglichen Situationen, z. B. beim Drängeln im Bus, eine Körperverletzung aufgrund von Sozialadäquanz ausscheide. 26 In einer vom Verfasser im Sommersemester 2016 ausgegebenen Anfängerhausarbeit bejahten die meisten Bearbeiter eine Körperverletzung. 27 Vgl. Fahl, Jura 2013, 967, 969 f. 28 Siehe dazu bei Kindern noch unten im Text. 29 Siehe etwa BGHSt 11, 241; 14, 52; BayObLG NJW 1079, 1371. 30 Die Schwierigkeit der Einordnung der »Sozialadäquanz« zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit (s. o. Anm. 3) spiegelt sich in gewisser Weise in der Austauschbarkeit von Tatbestandseinschränkung und Rechtfertigungsgrund beim Erziehungsrecht. 31 Etwa Beulke, Hanack-FS, 1999, S. 539 ff.; ders, Schreiber-FS, 2003, S. 29 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 593 ff., je m. weit. Nachw.; vgl. auch Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), Vor § 32 Rn. 15; s. ferner Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 223 Rn. 4.                                               neben – insofern ist den Kritikern der alt hergebrachten Definition allerdings recht zu geben – kaum noch eigenständige Bedeutung zukommen dürfte.32 Insofern liegt es nahe, sich an den Folgen des Toilettenbenutzungsverbots zu orientieren. Lässt sich der Toilettengang unter Inkaufnahme einer (erheblichen) Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens bis zur nächsten Pause verschieben, so ist das Toilettenverbot noch als »angemessen« zur Aufrechterhaltung eines geordneten Unterrichts anzusehen. Führt die angeordnete Harnverhaltung hingegen zum Einnässen des Schülers, so ist die »Angemessenheit« zu verneinen. Zur Strafbarkeit des Lehrers ist freilich noch erforderlich, dass dieser eine solche Folge subjektiv zumindest für möglich gehalten und nicht etwa darauf vertraut hat, der Schüler werde sich vor dem Eintritt des Schlimmsten noch einmal melden oder das Verbot ignorieren.33 Ansonsten kommt nur fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) in Betracht.34 Dafür – wie für die »Angemessenheit« insgesamt – dürfte auch das Alter der Schüler (ob es sich z. B. um Gymnasiasten oder Grundschüler handelt) eine Rolle spielen. Je älter die Schüler sind, desto eher kann nicht nur erwartet werden, dass sie ihren Harndrang kontrollieren können, sondern auch, dass sie sich trotz (generell angeordneten oder im Einzelfall bereits erteilten) Toilettengangverbots während des Unterrichts melden. Kommt es infolge des ausgesprochenen Verbots zu einem Blasenriss (Gesundheitsschädigung, s. o.) oder infolge des Einnässens (oder -machens) zu einer psychischen Gesundheitsschädigung (Angstzustände, Verlust der Selbstachtung)35, die die Qualität einer Körperverletzung hat,36 so ist der diesbezügliche Vorsatz des Lehrers                       32 Was an Behandlung »übel« ist, ist danach auch »unangemessen«, und was nicht unangemessen ist, nicht übel. Eine weitere Differenzierung neben der Erheblichkeit (s. o.) nach Behandlungen, die zwar unangemessen, aber dennoch nicht übel oder aber übel, jedoch nicht unangemessen sind, dürfte kaum gelingen. 33 Im Fall des AG Neuss, BeckRS 2016, 16947, wird berichtet (Polizeibericht), dass ein Schüler mehrfach gefragt habe, ob er die Toilette aufsuchen könne. Darauf habe der Lehrer mit Nein geantwortet. Nachdem der Schüler den Druck nicht mehr habe aushalten können, sei er einfach aufgestanden und gegangen. Der Lehrer habe das hingenommen. – Das AG Neuss hat eine Strafbarkeit im Hinblick auf das Toilettenverbot nicht einmal erwogen. 34 Siehe bereits oben Fn. 20. 35 Siehe bereits oben Fn. 18. 36 Im Prinzip bezieht sich die Körperverletzung nicht auf das Psychische, sondern auf die Physis, s. dazu Eisele, Strafrecht, BT 1, 3. Aufl. 2014, Rn. 294 f. – Das ist bei der Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 StGB) anders, vgl. Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 225 Rn. 1; zu dieser noch unten im Text II.5.                           Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten aber nicht das einzige Problem.37 Da der Lehrer nicht selbst den Harn anhält (oder darin versagt), liegt strukturell eine mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB) mit dem betroffenen Schüler als Tatmittler – gewissermaßen als Werkzeug gegen sich selbst – vor. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der Vordermann irgendein Defizit gegenüber dem alles steuernden Hintermann aufweist, dem deshalb die alleinige Tatherrschaft zukommt.38 Bei einem schuldunfähigen Kind unter 14 Jahren (§ 19 StGB) ist das normalerweise kein Problem.39 Handelt es sich aber, wie hier, um eine Selbstverletzung, so fragt sich, ob nicht statt der Regeln, die die Schuld betreffen, besser die Regeln über die Einwilligung heranzuziehen sind.40 Dort gibt es aber keine starren Altersgrenzen, vielmehr ist zu fragen, ob das Kind oder der Jugendliche »nach seiner Verstandesreife und Urteilsfähigkeit das Wesen, die Tragweite und die Auswirkungen des seine Interessen berührenden Eingriffs voll erfasst«.41 Dahinter steht das Selbstverantwortungsprinzip: Wer selbst in der Lage ist zu erfassen, was er tut, der ist kein »Werkzeug« eines anderen, sondern hat sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben. Ein großer Unterschied ergibt sich daraus nicht: Grundschulkinder haben den Anordnungen des Lehrers wenig entgegenzusetzen, und bei Jugendlichen (über 14 Jahren) ist auch nach § 3 JGG nach ihrer »Verantwortlichkeit« und damit ihrer sittlichen und geistigen Reife zu fragen. Bei Abiturienten und Studenten (wenn es um das Toilettenverbot an Hochschulen und Fachhochschulen geht) scheidet eine mittelbare Täterschaft aber aus. Der Lehrer hat keine Tatherrschaft. Das heißt, dass der (Berufsschul-, Hochschul-, Fachhochschul-) Lehrer für solche Folgen gar nicht verantwortlich gemacht werden kann.42                   37 Zwar wird man nicht sagen können, dass ein solcher Kausalverlauf »völlig außerhalb jeglicher Lebenswahrscheinlichkeit« liege, was schon die (objektive) Zurechnung ausschlösse (vgl. LK-Walter [Fn. 3], Vor § 13 Rn. 95; s. auch Fahl/Winkler, AT [Fn. 3], Vor § 1 Rn. 3, 7). Dass der Lehrer aber nicht jede Folge in seinen Vorsatz aufgenommen haben wird, wird schnell klar, wenn man bedenkt, dass er sich sonst auch mit dem möglichen Tod des Schülers (wie im Fall de Brahe, s. o. Fn. 17) abgefunden haben müsste. 38 Vgl. Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), § 25 Rn. 6; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 773 ff. 39 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 776. 40 Dafür etwa Herzberg, JuS 1974, 374, 378. 41 Siehe nur Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 554. 42 Dem entspricht bei der objektiven Zurechnung, dass sowohl die eigenverantwortliche Selbstgefährdung wie auch das eigenverantwortliche Dazwischentreten eines Dritten den Zurechnungszusammenhang unterbrechen, vgl. nur Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), Vor § 1 Rn. 7, 13.                                           409 2. Nötigung (§ 240 StGB)   Obwohl es sich auf den ersten Blick geradezu aufdrängt, in dem Toilettengangverbot wenigstens eine Nötigung zu einer Duldung (des Unterrichts) bzw. Unterlassung (des Toilettenbesuchs) zu sehen, fällt die Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand nicht leicht: Zwar ist das geschützte Rechtsgut – Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung43 – durch das Verbot, den Raum zu verlassen statt dem Unterricht beizuwohnen, gewiss beeinträchtigt. Jedoch müsste das »mit Gewalt« (§ 240 Abs. 1, 1. Alt. StGB) oder »durch Drohung mit einem empfindlichen Übel« (§ 240 Abs. 1, 2. Alt. StGB) erfolgt sein. Gewalt ist zunächst die Anwendung körperlichen (oder körperlich wirkenden) Zwangs.44 Nun kann ein Toilettenverbot, wie oben bereits festgestellt, zwar körperlich – und nicht nur psychisch45 – wirken. Darauf kommt es aber nicht an. Denn das körperliche Unbehagen dient nicht dazu, das Toilettenverbot durchzusetzen, ist also nicht Nötigungsmittel, sondern Folge der Nötigung. Der Lehrer »droht« auch nicht damit, denn es droht dem Schüler nicht für den Fall der Nichtbefolgung des aufgestellten Verbots, sondern für den Fall seiner Befolgung. Der Lehrer stellt es nicht in Aussicht für den Fall, dass der Schüler auf Toilette geht, sondern es droht dem Schüler (vielleicht), wenn er nicht geht. Übel kann indes jedweder Nachteil sein.46 Empfindlich ist es, wenn es geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinne des Täters zu motivieren, es sei denn, dass von diesem Bedrohten in seiner Lage erwartet werden kann, dass er der Drohung in besonnener Selbstbehauptung standhält.47 In Betracht kommen hier vor allem ein Tadel oder eine schlechte Zensur (für Betragen), Nachsitzen oder Strafarbeit. Alles sind Nachteile, die in der Lage sind, die Schüler im Sinne des Lehrers zu motivieren sitzen zu bleiben und ihren Platz nicht entgegen dem ausdrücklichen Verbot zu verlassen. Freilich verlässt sich ein guter Lehrer in erster Linie auf seine natürliche Autorität, die die Schüler auch ohne                     43 BVerfGE 73, 237; Fischer, StGB, 61. Aufl. 2016, § 240 Rn. 2. 44 Vgl. Fischer (Fn. 43), § 240 Rn. 8; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 240 Rn. 1. 45 Nur »psychische« Gewalt reicht nach der neuesten verfassungsgerichtlichen Rspr. nicht mehr hin, vgl. BVerfGE 92, 1, 14 ff.; Rengier, Strafrecht, BT II, 17. Aufl. 2016, § 23 Rn. 14; Wessels/Hettinger, Strafrecht, BT 1, 40. Aufl. 2016, Rn. 392; s. auch Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 240 Rn. 2. 46 Vgl. Schönke/Schröder-Eser/Eisele (Fn. 15), § 240 Rn. 9; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 240 Rn. 4. 47 BGHSt 31, 195, 201; MK-Sinn (Fn. 19), § 240 Rn. 77; s. auch Fahl/ Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 240 Rn. 5.                                                                 Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten 410 Androhung von solchen Konsequenzen daran hindert, einfach aufzustehen und an dem Lehrer vorbeizugehen. In einem solchen Fall liegt damit weder eine Drohung – das Inaussichtstellen eines zukünftigen Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt48 – noch Gewalt, die im Gegensatz dazu ihrem Wesen nach gegenwärtige Übelszufügung ist, vor.49 Für den Fall aber, der vorkommen mag, dass der Lehrer solche Konsequenzen ausdrücklich oder konkludent (d. h. durch schlüssiges Verhalten, wobei alle Umstände des Einzelfalls, also etwa auch bisher gezeigtes Verhalten in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen, eine Rolle spielen können) androht, wäre in die Verwerflichkeitsprüfung einzutreten.50 Bei § 240 StGB handelt es sich nämlich um einen der seltenen sog. offenen Tatbestände,51 bei denen die tatbestandliche Umschreibung so unvollkommen ist, dass sie alle möglichen alltagstypischen Verhaltensweisen erfasst, die noch kein Unrecht darstellen, und die bloße Tatbestandsverwirklichung daher auch noch kein Indiz für die Rechtswidrigkeit abgibt, sondern diese vielmehr positiv festgestellt werden muss. Sozial-adäquate Verhaltensweisen fallen aber niemals dem Verwerflichkeitsurteil anheim. Bei genauerer Analyse zeigt sich dann auch, dass weder der Zweck des Toilettenverbots (ungestörter Fortgang des Unterrichts) noch das Mittel (z. B. Tadel) für sich genommen als verwerflich zu beurteilen sind, noch in der aufeinander bezogenen Mittel-Zweck-Relation (Einsatz von Tadeln zur Durchsetzung eines störungsfreien Unterrichts). Die im Internet verbreitete, mit Grund- und Menschenrechten und unter Aufbietung des Folterverbots begründete gegenteilige Annahme, ein vom Lehrer ausgesprochenes Toilettenverbot sei als »verwerflich« anzusehen, scheint in erster Linie auf der angesprochenen   Verwechslung von Nötigungsmittel (Autorität des Lehrers) und Nötigungsfolge (Einnässen) zu beruhen (siehe oben).         48 Fischer (Fn. 43), § 240 Rn. 31; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 240 Rn. 3. 49 Zwar ist die Gewaltalternative von der Rspr. in der Vergangenheit gelegentlich so gehandhabt worden, dass z. B. schon das Vorhalten einer Waffe als Gewalt eingeordnet wurde (BGHSt 23, 126, 127; vgl. dazu Fahl/Winkler, BT/2 [Fn. 19], § 240 Rn. 5), doch erstens fehlt es am Vorhalten und zweitens geht vom Tadel keine körperliche Gefahr aus. 50 Jedenfalls da, wo sich im Schulrecht der Länder keine Rechtfertigungsgründe für ein erteiltes Toilettenverbot ergeben (das ist, soweit erkennbar, überall der Fall) – ansonsten ginge deren Prüfung der Verwerflichkeitsprüfung nach h. M. vor, vgl. nur Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), Vor § 240 Rn. 1. 51 Hiergegen Roxin (Fn. 4), § 10 Rn. 43 f., wonach es das genauso wenig geben könne wie sozialadäquate Tatbestandserfüllungen, dessen Konsequenz, in den das Verwerflichkeitsurteil begründenden Umständen statt dessen Tatbestandsmerkmale zu sehen, zwar, was Vorsatz und Irrtum angeht, vieles für sich hat, mir aber dem Wortlaut des § 240 Abs. 2 StGB zu widersprechen scheint.             3. Freiheitsberaubung (§ 239 StGB)   Naheliegend und vernünftig erscheint es nach alledem, sich bei der Frage nach der Sozialadäquanz des Toilettenverbots auch im Rahmen des § 239 StGB an der oben bei der körperlichen Misshandlung im Rahmen der Körperverletzung getroffenen Unterscheidung zu orientieren, welche Folgen das Toilettenverbot gehabt hat. Wir alle sind ständig kleinen Freiheitsberaubungen ausgesetzt, im Linienbus oder in der Straßenbahn, wo es keine Toiletten gibt und wir auch nicht einfach zwischen den Haltestellen aussteigen können, um unser Geschäft zu verrichten, oder in Verkehrsflugzeugen während des Starts und der Landung. In all diesen Fällen ist eine Freiheitsberaubung richtigerweise zu verneinen.52 Das RG hat allerdings hier keine als Anknüpfungspunkt für die nötige Einschränkung so geeignete Formel gefunden wie bei der körperlichen Misshandlung (siehe oben).53 Dennoch besteht Einigkeit, dass auch in diesen Tatbestand eine Bagatellklausel eingebaut werden muss, sowohl was die quantitative Dauer, als auch was die qualitative Erheblichkeit anbelangt.54 Danach ließe es sich vertreten, folgenlose Toilettenverbote bis zur nächsten Pause als »unerheblich« (im Hinblick auf den Freiheitsverlust) aus dem Tatbestand auszuscheiden. Hinzu kommt bei der Freiheitsberaubung noch folgendes: Freiheitsberaubung in Form der Einsperrung (§ 239 Abs. 1, 1. Alt. StGB) setzt das Verhindern des Verlassens eines Raumes durch äußere Vorrichtungen55 voraus, z. B. durch Abschließen der Tür. Selbst in dem Fall des AG Neuss,56 wo der Lehrer den Schülern den Ausgang mit seinem Körper und der Gitarre versperrte, war daher allenfalls eine Freiheitsberaubung »auf andere Weise« (§ 239                                           52 Das Toilettenverbot, das die Stewardess Gerard Depardieu erteilte (s. o. Fn. 12), dürfte daher rechtens gewesen sein, das Verhalten des französisch-russischen Schauspielers wohl nicht (§ 303 Abs. 1, 1. Alt. StGB). 53 Nicht einmal die berühmt gewordene Formel, wonach die Freiheitsberaubung mindestens »ein Vaterunser lang« gedauert haben muss, hat das RG selbst akzeptiert; vgl. RGSt 7, 259, 260; s. auch Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 239 Rn. 4. 54 Vgl. Rengier (Fn. 45), § 22 Rn. 13 f. 55 Vgl. RGSt 7, 258, 259; Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 239 Rn. 1; Kindhäuser, StGB, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 239 Rn. 6; Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372. 56 Siehe oben Fn. 1.                                           Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten Abs. 1, 2. Alt. StGB) gegeben. Dabei kommen sowohl Gewalt wie auch Drohung als Tatmittel in Betracht.57 Unüberwindlich muss ein Hindernis nicht sein.58 Das zeigt sich schon daran, dass ein Schloss auch aufgebrochen und der Lehrer (theoretisch) auch beiseite geschubst werden kann. Andererseits reicht eine bloße Erschwerung nicht aus.59 Wer einen möglichen Ausweg nicht beschreitet, obwohl er ihn kennt, ist nicht eingesperrt. Grenze dürfte die Zumutbarkeit sein.60 Sie wird aber vor allem dort unsicher und problematisch, wo keine physischen Hindernisse zu überwinden sind, sondern psychische Barrieren (Auflehnung gegen die Autorität des Lehrers). Was für den einen zumutbar ist, mag für einen anderen, weniger abgebrühten Menschen anstößig und unzumutbar sein.61 Insoweit ist nicht zu fragen, ob das Toilettenverbot sozial-adäquat ist, sondern umgekehrt, inwieweit es sozial adäquat wäre, einfach aufzustehen und zu gehen. Freilich ist nicht jedes sozial-inadäquate Verhalten automatisch auch unzumutbar (z. B. Flucht vor dem Vergewaltiger oder Entführer über die Straße im Bademantel oder ohne Schuhe).62 Sonst wäre am Ende auch derjenige Schüler seiner Freiheit beraubt, der ohne auf Toilette gehen zu müssen, nicht länger dem Unterricht beiwohnen möchte,63 weil er schlicht keine Lust mehr hat, sich aber       57 Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372. – Ob auch »List« als Tatmittel in Betracht kommt, ist zweifelhaft (s. Fahl/Winkler, BT/2 [Fn. 19], § 239 Rn. 7), kann hier aber dahinstehen. Selbst wenn der Lehrer Konsequenzen des Toilettenbesuchs vorspiegelte, die er in Wahrheit gar nicht zu ziehen bereit wäre, handelte es sich noch immer um eine Drohung mit einem empfindlichen Übel (vgl. Fahl/Winkler, Definitionen [Fn. 16], § 240 Rn. 3: »auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt«) und nicht »List«. 58 BGH NStZ 2001, 420; Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372. 59 RGSt 6, 231, 232; Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372. 60 Vgl. Rengier (Fn. 45), § 22 Rn. 12; Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372; s. auch Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 239 Rn. 8. 61 Insofern mag auch hier wieder das Alter der Schüler eine Rolle spielen und es älteren Schülern eher zumutbar sein aufzustehen als jüngeren; s. zu den Nacktbadenden, denen die Kleider weggenommen wurden, RGSt 6, 231, 232; SSW-Schluckebier, StGB, 3. Aufl. 2016, § 239 Rn. 5; s. auch Fischer (Fn. 43), § 239 Rn. 9. – Dagegen kommt es hier nicht darauf an, ob es »anstößig« ist, mit eingenässter Hose den Raum zu verlassen. Denn dabei handelt es sich nicht um ein Mittel der Freiheitsberaubung, sondern nur um die Folge davon, s. dazu bereits oben im Text. 62 Vgl. Rengier (Fn. 45), § 22 Rn. 12, wonach die Überwindung der Barriere nicht nur unzumutbar, sondern »unzumutbar gefährlich« für Leib und Leben sein muss (daran fehlt es beim Toilettenverbot gewiss); ebenso Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 372; s. auch Kindhäuser, LPK (Fn. 55), § 239 Rn. 7. 63 Solange er bleiben »will«, schließt sein »Einverständnis« nach h. M. bereits den Tatbestand aus, s. etwa Wessels/Hettinger (Fn. 45), Rn. 374, s. dazu auch Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 239 Rn. 2.                                                               4. Beleidigung (§ 185 StGB)   Was die Beleidigung »mittels einer Tätlichkeit« (§ 185 Abs. 1, 2. Alt StGB), also einer auf den Körper des Beleidigten zielenden Handlung,64 anbelangt, so ist auf das zu verweisen, was schon oben zur Körperverletzung gesagt wurde, denn der Lehrer uriniert ja nicht auf den Schüler, sondern sorgt allenfalls dafür, dass der Schüler sich selbst einnässt. Strukturell handelt es sich daher wiederum um eine mittelbare Täterschaft. Eine Tatherrschaft des Lehrers kommt indes allenfalls bei Grundschulkindern in Betracht, nicht aber bei älteren Schülern (siehe oben). In erster Linie ist aber schon das Vorliegen des Grundtatbestandes des § 185 Abs. 1, 1. Alt StGB zu bezweifeln. Dieser setzt dem Wortlaut nach eine »Beleidigung« voraus. Darunter versteht man die Kundgabe von Nicht- oder Missachtung.65 Fraglich ist, worin diese liegen sollte, wenn eine Stewardess dem Fluggast während der Landung oder der Lehrer dem Schüler während des Unterrichts den Besuch der Toilette verbietet. Manchen abstrusen Meinungen im Internet zufolge zeigt der Lehrer damit, dass er den Schüler nicht als vollwertigen Menschen anerkenne; die Ehre eines Menschen gebiete es, dass ihm der Toilettengang nicht verwehrt werden dürfe etc.66 Mir scheint das Gegenteil nahe liegend: Es achtet die Ehre von Schülern durchaus, wenn sie wie Erwachsene und nicht mehr wie Kindergar                  am Verlassen des Raumes durch gesellschaftliche Zwänge (die Autorität des Lehrers, Reaktionen der Eltern, Schulleitung oder Klasse) gehindert sieht.       411       64 Siehe Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 185 Rn. 2. – Das kann auch Urinieren sein. 65 Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 185 Rn. 3; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 185 Rn. 1. 66 Soweit darauf abgehoben wird, dass der Betroffene, der sich einnässt, damit der Lächerlichkeit preisgegeben wird, fragt sich erneut, inwieweit der Lehrer den Schüler damit zum Werkzeug gegen sich selbst macht (s. o.). Subjektiv wäre außerdem erforderlich, dass der Lehrer das Einnässen in seinen Vorsatz aufgenommen hätte (s. dazu oben Fn. 18). Sofern die Mitschüler sich über den Schüler lustig machen und ihn beleidigen, wäre das – den doppelten Anstiftervorsatz des Lehrers vorausgesetzt – eher Anstiftung (§ 26 StGB) als mittelbare Täterschaft mit den Mitschülern als Werkzeugen (§ 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB). Soweit etwa auf ein pflichtwidriges Unterlassen (§ 13 StGB) des Lehrers abgestellt wird, ist fraglich, inwieweit dieses täterschaftsbegründend sein kann, vgl. Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), § 13 Rn. 14, § 26 Rn. 6 (Teilnahme am/durch Unterlassen). – Im Übrigen erscheint es keinesfalls ausgemacht, dass der Lehrer für den Fall des Einnässens nicht vorhat, die Schüler von Beleidigungen gegenüber dem Mitschüler abzuhalten.                                                   412 Abhandlung – Christian Fahl, Inwiefern ist es strafbar, Schülern den Gang zur Toilette zu verbieten tenkinder behandelt werden. Dass man damit manchen Menschen zu viel der Ehre antut, zeigt nicht zuletzt das Beispiel von Gerard Depardieu67. erkennen lassen muss,74 was bei sozial-adäquaten Verhaltensweisen von vornherein ausscheidet. Daran scheitert auch die »Misshandlung Schutzbefohlener« nach § 225 StGB. Zwar kommen dafür – anders als bei § 171 StGB (»Person unter sechzehn Jahren«) – sogar auch ältere Schüler (»Person unter achtzehn Jahren«) in Frage. Auch das geforderte Obhutsverhältnis (§ 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB) liegt vor.75 Doch fehlt es – offensichtlich – an einer geeigneten Tathandlung: Abgesehen davon, dass nach der hier vertretenen Auffassung im Normalfall eines folgenlos gebliebenen Toilettenverbots schon keine »körperliche Misshandlung« vorliegt (s. o. II. 1), ist diese aber auch nicht »roh«. Denn »roh« heißt so viel wie »in gefühlloser, gegenüber dem Leiden des Opfers gleichgültiger Gesinnung«76 und scheidet bei einem sozial-adäquaten Verhalten von vornherein aus.77 Ähnliches gilt für die »Gesundheitsschädigung«. Abgesehen davon, dass Harnanhalten kein krankhafter Zustand ist (s. o. II. 1), müsste die Gesundheitsschädigung bei § 225 Abs. 1 StGB auch »durch böswillige Vernachlässigung« der Fürsorgepflicht geschehen sein, d. h. aus besonders verwerflichen Motiven.78 Die Vernachlässigung ist nicht »böswillig«, wenn sie aus Gleichgültigkeit oder Schwäche geschieht.79 Solch verwerfliche Motive können etwa Bosheit, Hass, Lust an fremdem Leid oder Eigensucht sein.80 Nichts davon trifft bei vernünftiger Würdigung auf den ein Toilettenverbot aussprechenden Lehrer zu. Beim »Quälen« verzichtet die h. M. zwar auf ein solches Gesinnungsmerkmal (»böswillig«, »roh«), dafür werden dort länger andauernde (oder sich wiederholende) Schmerzen vorausgesetzt.81 Davon kann bei einem längs      5. Weitere Delikte (§§ 171, 225 StGB)       Soweit im Internet des Weiteren eine »Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht« (§ 171 StGB) durch den Lehrer erwogen wird, so setzt diese die Gefahr einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder psychischen Entwicklung des Kindes voraus, die bereits bezweifelt werden kann, selbst wenn man die reklamierten psychischen Folgeprobleme des Einnässens (Angstzustände, Verlust der Selbstachtung) in Rechnung stellt. Erheblichkeit bedeutet nämlich, dass »der normale Ablauf des Reifeprozesses dauernd und nachhaltig gestört« sein muss68 – und nicht nur vorübergehend.69 Darüber hinaus handelt es sich nach einhelliger Meinung um ein konkretes Gefährdungsdelikt,70 d. h. dass nicht nur eine abstrakte Gefahr bestehen, sondern die konkrete Gefahr eingetreten (und vom Vorsatz des Lehrers) umfasst sein muss. – Die Gefahr, dass es aufgrund des Toilettenverbots zu einer körperlichen oder psychischen Entwicklungsstörung kommt,71 dürfte aber kaum konkreter sein als die, dass das Kind deshalb einen kriminellen Lebenswandel führen oder der Prostitution nachgehen wird (so die anderen beiden Alternativen des § 171 StGB). Die bloße Möglichkeit, dass ein Schaden eintritt, reicht dafür jedenfalls nicht.72 Schließlich muss es sich ausweislich des Gesetzeswortlautes um eine »gröbliche« Verletzung der (dem Lehrer obliegenden)73 Erziehungspflicht handeln. »Gröblich« heißt, dass sie objektiv in besonders deutlichem Widerspruch zu den Grundsätzen einer ordentlichen Erziehung stehen und subjektiv, an den Möglichkeiten des Täters gemessen, ein erhöhtes Maß an Verantwortungslosigkeit                               74 SSW-Wittig (Fn. 61), § 171 Rn. 7; so auch Schönke/Schröder-Lenckner/Bosch (Fn. 15), § 171 Rn. 4, der dem Merkmal jedoch eine eigenständige Bedeutung abspricht. 75 Für Lehrer gegenüber Schülern s. nur SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 8. 76 Vgl. Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 225 Rn. 9; vgl. auch SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 15. – Dazu, ob es sich dabei um ein Tatbestands- oder Schuldmerkmal oder beides handelt, s. Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 225 Rn. 2. 77 Vgl. aber auch LG Aachen, BeckRS 2009, 22210, wo den Kindern (mehrfach) zur Bestrafung verboten wurde, auf Toilette zu gehen, und Geschwister gezwungen wurden, sich auf die eingenässten Polster zu setzen. 78 BGH NStZ 1991, 234; SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 18; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 225 Rn. 11. 79 BGH NStZ 1991, 234; NK-Paeffgen (Fn. 3), § 225 Rn. 17; SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 18. 80 NK-Paeffgen (Fn. 3), § 225 Rn. 17; SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 18. 81 SSW-Wittig (Fn. 61), § 225 Rn. 13; s. auch Fahl/Winkler, Definitionen (Fn. 16), § 225 Rn. 7; zur Situation bei der Körperverletzung s. o. Fn. 19.                       67 Siehe oben Fn. 12. 68 Siehe BGH NStZ 1982, 328, 329; SSW-Wittig (Fn. 61), § 171 Rn. 10; Schönke/Schröder-Lenckner/Bosch (Fn. 15), § 171 Rn. 6. 69 So ist zu bezweifeln, dass Kinder nicht auch die peinliche Erfahrung des »Einnässens« – zumindest nach einer Weile – »wegstecken« können (wie die des Bettnässens). 70 BGH NStZ 1982, 328; SSW-Wittig (Fn. 61), § 171 Rn. 9; Schönke/ Schröder-Lenckner/Bosch (Fn. 15), § 171 Rn. 5. 71 Die im Übrigen die Misshandlung Schutzbefohlener dann gleich zu einer qualifizierten nach § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB werden ließe. 72 Vgl. BGH NStZ 1982, 328; SSW-Wittig (Fn. 61), § 171 Rn. 9; Schönke/Schröder-Lenckner/Bosch (Fn. 15), § 171 Rn. 5. 73 Vgl. SSW-Wittig (Fn. 61), § 171 Rn. 3.                                                                                                                           tens bis zur nächsten Pause dauernden Toilettenverbot bei vernünftiger Würdigung ebenfalls keine Rede sein. Weitere Deliktstatbestände für die Erteilung eines Toilettenverbots sind nicht ersichtlich. Staatsanwaltschaften tun gut daran, solche Verfahren einzustellen. Nach der hier vertretenen Ansicht ist § 170 Abs. 2 StPO die dafür richtige Norm. Aber auch wer der »Sozialadäquanz« auf materiell-rechtlicher Ebene keine Bedeutung beimessen will, muss auf prozessualer Ebene überlegen, ob nicht eine Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO richtig wäre.85 Die Einstellung aus Opportunitätsgründen ist freilich nicht nur für sozial-adäquate Verhaltensweisen gedacht, sondern umfasst auch (gerade) sozial inadäquates Verhalten.86       III. Fazit Das zur Gewährleistung des Unterrichts ausgesprochene Verbot, während des Unterrichts die Toilette aufzusuchen, ist sozial-adäquat. Wer als Lehrer ein Toilettenverbot ausspricht, macht sich dadurch in aller Regel nicht strafbar, wenn das Verbot folgenlos geblieben ist.82 Hat ein Schüler infolge des Verbots in die Hose gemacht, so ist der Lehrer dann strafbar, wenn er diesbezüglichen Vorsatz hatte.83 Hat ein Lehrer einen solchen Vorsatz, so kann Strafbarkeit in Form des Versuchs freilich selbst dann bejaht werden, wenn »nichts passiert« ist (§ 223 Abs. 2 StGB).84 Hat der Lehrer aber darauf vertraut, dass nichts passiert, so bleibt er auch dann straflos, wenn doch ein Schüler einnässt. Die       Danksagung: Für wertvolle Anregungen und Hinweise bedanke ich mich bei meinem wiss. Mitarb. Max Jakob Pfeiffer sowie bei den Lehrern Kathrin und Andreas Hilger, Konstanz. 85 Im Bereich der vom Erziehungsrecht der Eltern angeblich nicht mehr gedeckten Ohrfeige ist dies wohl die h. M., vgl. Fahl/Winkler, AT (Fn. 3), Vor § 32 Rn. 15; s. ferner Fahl/Winkler, BT/2 (Fn. 19), § 223 Rn. 4. Im Rahmen der Verfahrenseinstellung kann auch die Auflage, an einer Lehrerfortbildung teilzunehmen, auf die das AG Neuss die Erwartung künftiger Straffreiheit gründet (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 StGB), ausgesprochen werden (sog. unbenannte Auflage nach § 153 a Abs. 1 Satz 2 StPO). – Im Falle des AG Neuss, BeckRS 2016, 16947, scheiterte die von der StA im Ermittlungsverfahren angebotene Einstellung nach § 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO (gegen Geldzahlung) an der Zustimmung des auf Freispruch abzielenden Beschuldigten. 86 Vgl. zum Fall Kohl: Beulke/Fahl, NStZ 2001, 426 – zum Fall Edathy: Fahl, JR 2016, 241.                 82 Insoweit kann man von einem »erlaubten Risiko« sprechen, vgl. zur Abgrenzung von der Sozialadäquanz SSW-Rosenau (Fn. 61), Vor § 32 Rn. 61 f. 83 Das betrifft auch die Sachbeschädigung wegen der beschmutzen Hose (§ 303 StGB), sofern eine einfache Reinigung nicht genügt. 84 Sogar, wenn der Schüler in Wahrheit nicht einmal »musste« (untauglicher Versuch).