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Hintergrund:
Geschlecht und Gender sind nicht nebensächlich, sondern spielen eine relevante Rolle in der kindlichen Entwicklung, Erziehung und Gesundheit. Die Diskurse um Geschlecht und Gleichstellung lassen hingegen häufig den durchschnittlichen Reifungsvorsprung der Mädchen außer Acht. Auf diese Weise wird die Kluft zwischen den Geschlechtern bereits im Vorschulalter in beunruhigendem Maße betont. Durch die dichotome Geschlechterperspektive geraten außerdem andere entscheidende Einflussfaktoren wie die soziale und die ethnische Herkunft der Kinder in den Hintergrund. Diese Dissertation setzt den Schwerpunkt daher auf eine angemessene Analyse der Kategorie Geschlecht in ihrer immerwährenden Interaktion mit Anlage und Umwelt.
Methoden:
Die Betrachtungen beruhen auf Daten zu N = 6.447 Kindergartenkindern aus Mecklenburg-Vorpommern (M-V), die im Rahmen der kontrollierten prospektiven Kohortenstudie „Summative Evaluation KiföG M-V“ erhoben wurden. Zur Einschätzung kindlicher Kompetenzen kam das „Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten“ (DESK 3-6) zur Anwendung; weiterhin wurde ein Elternfragebogen zur Erhebung des Sozialstatus eingesetzt. Auf der Grundlage geschlechtsinsensibler Normen erfolgte die Ermittlung kompetenzspezifischer Geschlechtsunterschiede in Abhängigkeit vom Kindesalter, vom Bildungshintergrund und vom Migrationsstatus. Geschlechtsspezifische Normen fanden anschließend Anwendung für die erneute Errechnung der Screeningbefunde von n = 4.251 Kindern im Alter von 48 bis 83 Monaten. Das Effektstärkemaß Cohen’s d diente dabei der Beurteilung der praktischen Relevanz der Geschlechterdifferenzen.
Ergebnisse:
Unter Anwendung der geschlechtsinsensiblen Gesamtnormen schnitten die Jungen jeden Alters schlechter ab – in allen Entwicklungsbereichen und unabhängig vom Kindesalter, vom Bildungshintergrund und vom Migrationsstatus manifestierten sich stets Geschlechtsunterschiede zugunsten der Mädchen. Diese Differenzen vergrößerten sich meist mit zunehmendem Alter und waren stellenweise stärker ausgeprägt bei Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern bzw. bei Kindern nicht-deutscher Nationalität. Analysen auf der Grundlage geschlechtsspezifischer Normen ergaben allerdings ein andersartiges, buntes Bild und keine konsistenten Vorteile für ein Geschlecht: Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen waren alles in allem nicht pädagogisch und praktisch bedeutsam, die Stärken und Schwächen geschlechtstypisch, aber nicht geschlechtsspezifisch verteilt. Die Berücksichtigung geschlechtsbedingter Besonderheiten hatte auch auf die Ermittlung von Entwicklungsrisiken im feinmotorischen und im psychosozialen Bereich einen Einfluss: Die Prävalenzraten wurden dabei durch die geschlechtsinsensiblen Normen für Mädchen mehrheitlich unterschätzt, für Jungen überschätzt.
Schlussfolgerungen:
Die besondere Beachtung geschlechtsspezifischer Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsbedingungen entschärft einerseits die „Jungenkrise“ und ermöglicht andererseits eine erweiterte, eine biopsychosoziale Perspektive: Die Unterschiede in den Lernwelten und Lebenswegen von Mädchen und Jungen sind nicht monokausal, sondern multidimensional zu erklären. Statt die Geschlechter gegeneinander auszuspielen, sollte deshalb das Augenmerk auf der Koexistenz von Stärken und Schwächen innerhalb der Geschlechter liegen. Differenzierungen und Diversitäten müssen dringend den Platz von Pauschalisierungen einnehmen, um Behinderungen durch Begriffe und Bilder von Geschlecht gewissenhaft zu umgehen und in angemessener Art und Weise auf ethnische und soziale Herkunft Rücksicht zu nehmen. Im Sinne der Strategien des „Gender Mainstreaming“ und „Managing Diversity“ werden so intersektionale, interdisziplinäre Maßnahmen für mehr Chancengleichheit ins Rollen gebracht. Für frühzeitige Förderung und Frühintervention erscheint entsprechend ein Fokus auf Fähigkeiten und Fertigkeiten statt allein auf Geschlecht und Gender vielversprechend. Kompetenzspezifische, kompensatorische, kultursensible Präventionsansätze bieten die beste Chance, bereits bei Kindergartenkindern die Divergenzen nicht nur im Hinblick auf Geschlecht und Gender, sondern auch auf Ethnizität und Milieu zu verringern.