Doctoral Thesis
Zur biomechanischen Belastung von Insassen im mittleren Fahrzeug bei Dreier-Auffahrkollisionen
(2014)
Ein Ziel der vorliegenden Arbeit war die systematische Bestimmung biomechanischer Insassenbelastungen hinsichtlich HalswirbelsĂ€ulenverletzungen bei der neu definierten Sandwichkollision. Sie beschreibt die Auffahrkollision eines Fahrzeugs auf ein davor stehendes zweites Fahrzeug, das durch den HeckanstoĂ auf ein wiederum davor stehendes drittes Fahrzeug geschoben wird. Von Interesse waren die Bewegungen des Insassen im zweiten, also mittleren der drei Fahrzeuge, die anhand von 36 Simulationen berechnet und mit 34 simulierten Frontalkollisionen verglichen wurden. Die Simulationsberechnungen unter Verwendung von PC-Crash and Madymo ergaben, dass mit der gleichen kollisionsbedingten GeschwindigkeitsaÌnderung des Pkw bei Sandwichkollisionen eine bedeutend hoÌhere biomechanische Belastung fuÌr den Insassen verbunden ist als bei isolierter Betrachtung der Frontalkollisionen. Das war bei FahrzeugabstaÌnden von 80 cm und weniger zwischen vorderem und mittlerem Fahrzeug der Fall. Diese AbstaÌnde werden zwar typischerweise uÌberschritten, koÌnnen in Gefahrensituationen aber auch unterschritten werden. Zur Quantifizierung der biomechanischen Belastung wurde die Differenzgeschwindigkeit zwischen Kopf und OberkoÌrper in der VerzoÌgerungsphase nach der Heckkollision bei der Frontalkollision ausgewertet. Mit dieser Differenzgeschwindigkeit sind Scherbewegungen zwischen Kopf und OberkoÌrper erklaÌrbar. Im Ergebnis ist die so definierte biomechanische Frontalbelastung bei Sandwichkollisionen durch UÌberlagerung der Reboundbewegung der Heckkollision mit der Frontalkollision um den Faktor ("Sandwichfaktor") 1,5 bis 2,3 groÌĂer als die Belastung bei reinen Frontalkollisionen.
Im klinischen Alltag werden im Rahmen der Ăbergabe zwischen Notarzt und Klinik nach VerkehrsunfĂ€llen immer wieder technische Parameter vom Unfallort genannt. Ob diese Informationen zur verbesserten EinschĂ€tzung der Verletzungsschwere nĂŒtzen, ist bisher nicht ausreichend untersucht worden. Um dieser Frage nachzugehen, wurden Daten von 100 realen FĂ€llen aus der Datenbank der Unfallforschung Greifswald in einem mehrstufigen Experiment erfahrenen NotĂ€rzten in Fragebogenform prĂ€sentiert. Dabei wurden zunĂ€chst einfache Routineparameter, dann erweiterte Parameter und schlieĂlich Fotos der UnfĂ€lle dargeboten. Gefordert war eine EinschĂ€tzung der Verletzungsschwere eines beteiligten PKW-Fahrers in den vier am ISS-Wert orientierten Kategorien âleicht verletztâ, âschwer verletztâ, âlebensgefĂ€hrlich verletztâ und âtotâ. Zur Auswertung erfolgte eine Dichotomisierung in âleicht und schwer verletztâ (ISSâ€15) versus âlebensgefĂ€hrlich verletzt und totâ (ISS 16-75). Berechnet wurden die Ăbereinstimmung der Teilnehmer im Hinblick auf die Verletzungsschwere jenseits des Zufalls (kappa-Statistik) sowie die diagnostische TestgĂŒte (SensitivitĂ€t, SpezifitĂ€t, FlĂ€che unter der ROC-Kurve, Likelihood Ratios) technischer Unfallparameter. Die Beobachter-Ăbereinstimmung der Verletzungsschwere unter Kenntnis einfacher oder erweiterter technischer Parameter sowie Bildparameter lag bei kappa-Werten von 0,42, 0,65 und 0,61. Die SensitivitĂ€t schwankte zwischen den Beobachtern und je nach unterschiedlicher Informationsmenge zwischen 18 und 80%, die SpezifitĂ€t zwischen 41 und 89%. Durch die PrĂ€sentation von Fotos vom Unfallort lieĂ sich eine Steigerung der SensitivitĂ€t erzielen. Die Verschiebung der Vortest-Wahrscheinlichkeit von 50% fĂŒr eine lebensbedrohliche Verletzung betrug im Falle negativer technischer Befunde maximal 40%, im positiven Fall 67%. Im Rahmen dieser umfangreichen Untersuchung unter Nutzung realer UnfĂ€lle und erfahrener NotĂ€rzte konnte erstmals gezeigt werden, dass technische Unfallparameter isoliert keine sichere Vorhersage der Verletzungsschwere zulassen. Ob technische Parameter zusammen mit medizinischen Parametern eine verbesserte erste EinschĂ€tzung ermöglichen, muss Ziel weiterer Untersuchungen sein.
Der Beifahrersitz gilt gemeinhin als âplace du mortâ, auf dem das Risiko schwerer oder tödlicher Verletzungen im Vergleich zur Fahrerseite erhöht ist. Im Rahmen einer medizinisch-technischen Analyse realer VerkehrsunfĂ€lle wurde diese Hypothese wissenschaftlich ĂŒberprĂŒft. Bei 196 UnfĂ€llen wurde die Gesamtverletzungsschwere von 99 Fahrer-BeifahrerâPaaren anhand international gebrĂ€uchlicher Indices (z. B. GCS, AIS, ISS) verglichen. FĂŒr 71 dieser Paare wurden insgesamt 524 einzelne Verletzungen hinsichtlich der Schwere und der verletzungsverursachenden Teile untersucht. Die Ergebnisse wiesen mit signifikant schlechteren Werten fĂŒr GCS, ISS, AIS im Kopfbereich sowie einer höheren Rate an Polytraumata zunĂ€chst auf eine höhere Verletzungsschwere der Beifahrer hin. Bei der vergleichenden Untersuchung der verschiedenen Kollisionsrichtungen lieĂen sich signifikante Unterschiede jedoch nur nach Rechtsseitenkollisionen fĂŒr die GCS und den ISS sowie nach Mehrfachkollisionen fĂŒr den ISS nachweisen. Die höhere Gesamtverletzungsschwere der Beifahrer war damit im Wesentlichen auf die Rechtsseitenkollisionen zurĂŒckzufĂŒhren, die im Untersuchungsgut hĂ€ufiger als die Linksseitenkollisionen auftraten und zudem eine höhere mittlere Deformationstiefe aufwiesen. FĂŒr die Einzelverletzungen in den Körperregionen nach AIS konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen Fahrern und Beifahrern festgestellt werden. FĂŒr bestimmte Verletzungen (z. B. Clavicula- und Wirbelkörperfrakturen) ergaben sich jedoch auffĂ€llige Abweichungen. Bei Airbagauslösungen ohne Gurtbenutzung wurden sechs FĂ€lle von meist tödlichen Verletzungen der Aorta bzw. des Herzens beobachtet. Angesichts der sehr geringen Gurtanlegequote von etwa zwei Dritteln in beiden Gruppen ergibt sich hieraus die Notwendigkeit weiterer AufklĂ€rungs- und KontrollmaĂnahmen zur Erhöhung der Gurtbenutzung.
Neunzig Prozent der VerkehrsunfĂ€lle in Deutschland sind auf menschliches Fehlverhalten zurĂŒck zu fĂŒhren. Wissenschaftliche Daten des Greifswalder Unfallforschungsprojektes sollten dazu dienen, einen PrĂ€ventionsmaĂnahmenkatalog zu erarbeiten, der gleichzeitig umweltbedingte Gegebenheiten sowie menschlich soziale Aspekte berĂŒcksichtigte und dadurch zu einer Senkung der VerkehrsunfĂ€lle mit Personenschaden fĂŒhren sollte. Es wurde eine prospektive, nicht-interventionelle Beobachtungsstudie durchgefĂŒhrt, in deren Rahmen technische, klinische und psychodiagnostische Parameter von unfallbeteiligten Personen und Fahrzeugen erfasst wurden. Erstmals wurde in Deutschland ein psychodiagnostischer Fragebogen (Sensation Seeking Scale, SSS) als Instrument zur Erfassung von Risikobereitschaft bei VerkehrsunfĂ€llen in der Unfallforschung verwendet. Insgesamt konnten 422 Personen in die Studie eingeschlossen werden, davon 64,1% Verletzte. Es konnten 278 FahrzeugfĂŒhrer mittels SSS befragt werden. Die Studie zeigte ein signifikantes Absinken der Risikobereitschaft (SSS) mit steigendem Alter sowie einen signifikanten Geschlechtsunterschied in diesem Persönlichkeitsmerkmal. Die Studienergebnisse lassen auĂerdem einen (noch nicht signifikanten) Zusammenhang zwischen Risikoverhalten und Verletzungsschwere bzw. Unfallschwere erkennen. Dieser Sachverhalt scheint eine retrospektive Identifizierung von ârisikobereiten Personenâ zu ermöglichen, um Interventionen anbieten zu können und so prĂ€ventiv wirksam zu werden. Diese Erfassung der Risikobereitschaft erlaubt jedoch momentan keine retrospektive Differenzierung von Unfallverursachern und Nichtverursachern, da sich in den Gruppen nur sehr geringe Unterschiede erfassen lieĂen. Zur Prognostizierbarkeit des individuellen Verkehrsunfallrisikos kann Zuckermans Sensation Seeking Scale (Form V) deshalb zurzeit nicht empfohlen werden.