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Hintergrund: Die Infektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) ist keine tödliche Krankheit mehr [1]. Mit dem Aufkommen der HAART (highly active antiretroviral therapy) im Jahre 1996 und ihrer stetigen Weiterentwicklung hin zur cART (combined antiretroviral therapy) stieg der Behandlungserfolg bei HIV-infizierten Personen drastisch an. Eine Kombination aus unterschiedlichen Wirkstoffklassen machte die Therapie effizienter und verbesserte die Lebensqualität von HIV-Patienten [92]. Doch obwohl sich die Medikation als gut und wirksam erwiesen hat, ist sie nicht frei von Nachteilen. Die Adhärenz bei der Medikamenteneinnahme ist bei vielen Patienten nicht ausreichend, was unter anderem Nebenwirkungen, sozialen Faktoren, Stigmatisierung und Komorbiditäten geschuldet ist. Unterschreitet die Medikamenteneinnahme 95 % der verordneten Dosis, besteht die Gefahr von Resistenzbildung, die mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem und gesundheitlichen Risiken für die infizierte Person verbunden ist [4, 10]. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der antiretroviralen Therapie hat zu einer deutlichen Veränderung der Ansprüche an die Qualität der Versorgung geführt. Während in den Anfangstagen der HIV-Behandlung das Hauptaugenmerk auf die Verhinderung von opportunistischen Infektionen (OI) gelegt wurde, sind inzwischen Aspekte wie die langfristige Virussuppression und die stabile Rekonstitution des Immunsystems die Mindestanforderungen der Therapie. Trotz dieser allgemeingültigen Ziele gibt es regional unterschiedliche Herausforderungen. Zur unterschiedlichen Versorgungsqualität in ländlichen und städtischen Regionen existieren nur rudimentäre Daten. Ziel dieser Arbeit war, diese Daten prototypisch für Berlin und Greifswald zu erheben.
Methoden: Im Rahmen der Qualitätssicherungsvereinbarung zur strukturierten Patientenversorgung nach § 135 Abs. 2 SGB V wurden gemäß EBM seit 2009 in Berlin sowie in Greifswald Daten HIV-positiver Patienten im Rahmen der Routineversorgung erhoben. Von 43 Patienten in Greifswald konnten 41 mit einer HIV-Erkrankung in unsere Studie eingeschlossen werden. In Berlin umfasste die Ursprungskohorte einer Schwerpunktpraxis 1669 Patienten. Eingeschlossen wurden aufgrund der von uns angelegten Kriterien (Sampling der Berliner Patientendaten nach Alter und Geschlecht) jedoch nur 187 Patienten. Die wichtigsten Ausschlusskriterien waren eine fehlende Einwilligung zur Studienteilnahme sowie ein Lost to follow-up (LTFU) über mehr als drei Quartale. Die Auswertung der bizentrischen, nicht interventionellen Korrelationsstudie erfolgte retrospektiv. Der Beobachtungszeitraum betrug fünf Jahre (01/2009 – 01/2014). Hauptaugenmerk der Datenauswertung wurde auf die Erfassung, den Vergleich und die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der demografischen, immunologischen, virologischen, klinischen und therapeutischen Daten der beiden Kohorten gelegt. Die Auswertung erfolgte mithilfe des Statistikprogrammes R (Version 3.2.1). Statistische Signifikanz wurde bei p ≤ 0,05 angenommen.
Ergebnisse: Vor Durchführung des Samplings bestanden deutliche Unterschiede hinsichtlich der demografischen Daten in beiden Kohorten. Bei gleichem Altersdurchschnitt (Median Berlin (B): 44,4 Jahre; Greifswald (G): 44,5 Jahre; p = 0,94) war der Anteil HIV-infizierten Frauen in Greifswald deutlich höher (B: 9,4%; G: 22%; p = 0,01), was sich im ländlichen Raum auch in einer vergleichsweise geringen Transmissionsrate der HIV-Infektion über Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) niederschlug (B: 141/187 [75,4%]; G: 17/41 [41,46%]; p = 5,384e-05). Zu Therapiebeginn zeigte sich eine im Median signifikant geringere CD4+ T-Lymphozytenzellzahl in Greifswald als in Berlin (B: 516/µl; G: 266/µl; p < 0,001). Weiterhin hatten in Greifswald mehr Patienten einen Ausgangswert von <200 CD4+ T-Zellen je µl Blut (B: 12/187 [6,41%]; G: 13/41 [31,7%]; p < 0,001). Ungeachtet dieser unterschiedlichen Ausgangssituationen glichen sich die CD4+ T-Zellzahlen unter cART nach drei Quartalen auf ein einheitlich hohes Niveau an (B: 564/µl; G: 416/µl; p = 0,095). Die Viruslast (VL) lag in Greifswald zu Therapiebeginn nicht signifikant über der von Berlin (p = 0,17). Ein Abfall der VL unter cART auf ein Level von < 50 Kopien/ml erfolgte in beiden Kohorten ähnlich schnell (B: 128d; G: 137d; p= 0,8). Von allen 184 bzw. 41 diagnostizierten Patienten wurden in beiden Kohorten > 80 % mit cART versorgt (B: 153/184 [83,15%]; G: 36/41 [87,8%]; p = 0,12). Ein Absenken der VL unter die Nachweisgrenze (NG) gelang in beiden Kohorten bei mehr als der Hälfte der Patienten (B: 115/184 [62,5%]; G: 23/41 [56,09%]; p = 0,085). Die Firstline-Therapie (FL) wurde in Berlin im Median 1127 d und in Greifswald 809 d eingenommen (p = 0,09). Eingesetzte Therapieregime in FL sowie in Secondline (SL) waren in beiden Kohorten weitgehend übereinstimmend (FL: p = 0,48; SL: p = 0,08). Therapiewechsel fanden etwa in gleicher Häufigkeit statt (B: 33,5%; G: 32,1%; p = 0,87), während die Gründe für einen Therapiewechsel voneinander abwichen (p = 0,0076). Therapieumstellungen fanden in Berlin am häufigsten aufgrund einer Therapievereinfachung (Umstellung auf Single-tablet regimen (STR)) oder auf Patientenwunsch statt, während in Greifswald medikamentenassoziierte Probleme wie Resistenzbildung und das Auftreten von Nebenwirkungen am häufigsten als Ursache für einen Therapiewechsel benannt wurden. Koinfektionen wie Hepatitis C (HCV) und Hepatitis B (HBV) traten in beiden Kohorten mit gleicher Häufigkeit auf (p = 1), auch die Anzahl an durchgeführten HBV-Impfungen differierte nicht (p = 0,68). Ein Rückgang der OI war nach Beginn mit cART in beiden Kohorten gleichermaßen zu verzeichnen (p = 0,87).
Diskussion: Die Auswertungen unserer Studie zeigen insgesamt, dass die Versorgung von HIV-infizierten Patienten sowohl in städtischen als auch in ländlichen Regionen leitlinienkonform durchgeführt wird und die Qualität sehr hoch ist. Dieses Fazit kann gezogen werden, obgleich sich die Patienten aus Greifswald mit ihrer Erkrankung bei Therapiebeginn in einem deutlich weiter fortgeschrittenen Stadium befanden. Die Zahl der CD4+ T-Lymphozyten bei Erstdiagnose bzw. bei Therapiebeginn hat sich dabei als wichtigster Vorhersagewert etabliert, da niedrige Werte in direkter Verbindung mit dem Auftreten von Komorbiditäten stehen. Ein später Beginn mit cART ist weiterhin direkt mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert [48, 49], besonders dann, wenn die CD4+ T-Lymphozyten bei Beginn mit cART bereits unter 200/µl abgesunken sind [50,51]. Trotzdem gelingt durch eine leitlinienorientierte und stringente Therapie eine Angleichung der Werte innerhalb kurzer Zeit, was für ein hohes Versorgungsniveau auch im ländlichen Raum spricht. Zwischen dem Leben im ländlichen Raum und einem späten Beginn mit cART scheint des Weiteren ein Zusammenhang zu bestehen [52]. Als mögliche Ursachen hierfür werden verminderte Risikowahrnehmung, größere Stigmatisierung, weniger Diskretion und Anonymität, ein geringerer Bildungsgrad sowie ein schlechterer Zugang zu Aufklärungskampagnen und Screening-Maßnahmen angegeben [52, 54, 55]. Ob diese Gründe auch für Greifswald Gültigkeit besitzen, erfordert weiteren Nachforschungen. Mitverantwortlich für die unterschiedlichen Ausgangssituationen könnte des Weiteren sein, dass in Greifswald die Versorgung von HIV-positiven Patienten nicht durch eine Fachabteilung, sondern - aus historischen Gründen - durch verschiedene Ambulanzen bzw. Klinken mitgetragen wurde. Ein Umstand, der Ende 2014 durch die Betreuungsübernahme aller HIV-Patienten in die Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten der Universitätsmedizin Greifswald bereits geändert wurde und dessen Effekte es im Nachgang zu evaluieren gilt.
Die cART wurde in beiden Kohorten wirkstoffgleich verordnet, während die Gründe für Therapiewechsel voneinander abwichen. Am ehesten erklärbar ist die häufige Umstellung der cART auf Patientenwunsch in Berlin dabei durch viele HIV-Schwerpunktpraxen, HIV-Selbsthilfegruppen und AIDS-Treffpunkte in der Hauptstadt, die einen regeren Austausch über neue Therapieregime und Möglichkeiten zur Verbesserung bzw. zur Vereinfachung der Therapie ermöglichen.
Durch den demografischen Wandel mit einer älter werdenden Bevölkerung ist zukünftig mit einem Inzidenzanstieg von progredienten, lebenslimitierenden Erkrankungen zu rechnen, der zu einem wachsenden Bedarf an palliativmedizinischer Versorgung in Deutschland führt. Damit verbundene Kos-tenanstiege erhöhen den wirtschaftlichen Druck auf politische Entscheidungsträger bei der Ressourcenallokation. Eine besonders große Herausforderung stellt dabei die flächendeckende Versor¬gung in ländlichen Regionen dar.
Was kostet spezialisierte Palliativversorgung in einer ländlichen Region wie Vorpom¬mern-Greifswald (VG)? Wie werden sich die Kosten entwickeln, wenn sich der Bedarf und die Versorgungsstruktur verändern? Aktuell liegen nur rudimentäre Daten über die Ausgaben für palliativmedizinische Versorgung in Deutschland vor. Fundierte Kenntnisse sind für den Ausbau eines kosteneffizienten Netzwerks allerdings unerlässlich. Das Ziel dieser Arbeit ist daher die Darstellung der Kosten für spezialisierte Palliativversorgung im Raum Vorpommern-Greifswald (VG) sowie die Prognose über die Kostenentwicklung bei Variation der beteiligten Einrich¬tungen (Normalstation, Palliativstation, Hospiz sowie SAPV zu Hause bzw. im (Kurzzeit-) Pflegeheim).
Durch eine retrospektive Studie vom 01.04.2013 bis 31.03.2014 wurden die Behandlungskosten von 464 Patienten mittels Sekun¬därdatenanalyse ausgewertet. Ferner wurden die Verweildauern in den Institutionen sowie deren Übergänge bestimmt. Mithilfe dieser Parameter erfolgten Simulationen mit dem Markov-Modell, die Prognosen über durchschnittliche Jahres-, Behandlungs- und Tageskosten für verschiedene Szenarien lieferten.
In den Simulationen mit variabler Mortalität übte die Restlebenszeit (RZ) neben den Tagessätzen zusätzlich Einfluss auf die Ergebnisse aus: Die Versorgung im Hospiz und auf der Palliativstation gingen mit einer kurzen RZ und folg¬lich geringeren Kosten einher. SAPV zu Hause und Therapien auf der Normalstation ließen die simulierten Jahreskosten durch eine lange RZ oder hohe Tageskosten ansteigen, im Pflegeheim war der Trend nicht eindeutig. Änderungen der Kapazitäten im KZP hatten nur einen mar¬ginalen Einfluss auf die Ausgaben.
Die durchschnittlichen Jahreskosten für spezialisierte palliativmedizinische Versor-gung lagen im Raum VG in der Basis-Simulation (BS) bei 7.814.430,47€. Bei alleiniger Versorgung auf der Normalstation stiegen sie bei variabler Mortalität im Vergleich dazu um das 18-Fache an. Existierte daneben zusätzlich eine Palliativstation, wurde der Kostenanstieg auf 24% gedrosselt und betrug 9.688.127,25€. Eine Reduktion der Plätze in der Akut-Klinik führte zu Einsparungen zwischen 52% und 57%. Die kombinierte Versorgung im Hospiz und auf der Palliativstation ging mit minimalen simulierten Jahreskosten von 2.590.943,67€ einher. Komplett ohne SAPV ließen sich die Ausgaben um durchschnittlich 22% senken und weiter um ca. 29%, wenn SAPV nur in der Häuslichkeit entfiel.
Die Ergebnisse änderten sich bei konstanter Mortalität. In allen Simulationen mit einheitlicher RZ zeigte sich SAPV – unabhängig davon, wo sie erfolgte – den anderen Institutionen ökonomisch überlegen. Eine ausschließliche SAPV ging mit den geringsten mortalitätsadjustierten Jahreskosten von 3.1711.387,99€ einher. Umgekehrt stiegen diese ohne SAPV bis zu 116% auf 16.863.368,85€ an. Die übrigen Szenarien zeigten ähnliche Trends im Vergleich zur variablen Mortalität. Bei alleiniger Versorgung auf der Normalstation stiegen die mortalitätsadjustierten Jahreskosten ebenfalls maximal an. Sie erhöhten sich im Vergleich zur BS allerdings we¬niger stark um 315% auf 32.427.040,75€. Dieser Zuwachs wurde durch eine zusätzliche Palliativstation ebenfalls auf 198% bzw. 23.314.102,25€ gedrosselt. Unter Reduktion der statio¬nären Kapazitäten waren Einsparungen zwischen 46% und 54% zu beobachten. Die Ausgaben lagen dann zwischen 3.573.443,09€ und 4.250.803,62€. Komplett ohne Akut-Krankenhaus sanken die mortalitätsadjustierten Jahreskosten weiter um 55% auf durchschnittlich 3.506.578,56€.
Hospitalisierung, vor allem ohne Palliativstation, führte somit auch bei konstanter RZ zu Kostenanstiegen. Die Betreuung im Hospiz ging mit Einsparungen einher. SAPV senkte die Aus¬gaben in der Simulation am meisten.
Zusammenfassend war die ambulante palliativmedizinische Versorgung in der Simu¬lation mit konstanter RZ im Hinblick auf einen möglichst kosteneffizienten Ressourceneinsatz den anderen Institutionen überlegen. Die Studie deckte allerdings auch auf, dass Verlegungen in stationäre Institutionen trotz SAPV notwendig waren. Die Gründe dafür sind zukünftig zu ermitteln – insbesondere in Hin¬blick auf die Frage, ob sie durch bedarfsgerechte Optimierung der Versorgung vermeidbar sind.
Kann SAPV zu Hause nicht gewährleistet werden, sind aus ökonomi¬scher und medizinischer Sicht alternative Strukturen wie SAPV im Pflegeheim oder eine Betreuung im Hospiz einer Akut-Klinik gegenüber zu bevorzugen. Stationäre Aufenthalte sollten, sofern sie unvermeidbar sind, nach Möglichkeit auf der Palliativstation erfolgen, mit möglichst zügiger Entlassung nach Hause, um dem Wunsch der meisten Patienten zu entsprechen, in der gewohnten häuslichen Umgebung in Würde und Selbstbestimmung zu sterben.
Die dynamische Bevölkerungsentwicklung Ostdeutschlands seit 1990 zeigt am Beispiel der Entstehung einer Residualbevölkerung die unterschiedlichen Variationen der Selektivität von Wanderungen: Einer Bevölkerung, die aufgrund langfristig wirkender selektiven Wanderungsverluste im ländlich-peripheren Raum ein spezifisches demographisches Verhalten aufweist.
Der Wanderungsverlust Ostdeutschlands mit über 2,5 Millionen Menschen hat tiefgreifende Auswirkungen auf die alters-, geschlechts- und bildungsspezifische Bevölkerungsstruktur der neuen Bundesländer hinterlassen. Auch wenn die jungen Generationen zumeist das politisch geeinte Deutschland leben, existieren mit Blick auf die vorliegenden demographischen Prozesse und Strukturen bis heute nahezu zwei deutsche Staaten.
Die Entwicklungen sowie die Auswirkungen insbesondere der räumlichen Bevölkerungsbewegung wurden entsprechend dem Stand der Forschung vor dem Hintergrund der Situation Ostdeutschlands vorgestellt und die darauf aufbauenden Forschungsthesen benannt. Das bisher nur theoretische Konstrukt der Residualbevölkerung, die Interdependenz aus natürlicher und räumlicher Bevölkerungsbewegung, wurde anhand von unterschiedlichen demographischen Parametern (u. a. hohe Fertilität, hohe Mortalität, starke Wanderungsverluste, großes Frauendefizit, Überalterung) eingeordnet und damit als messbar definiert.
Am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns konnte anschließend gezeigt werden, wie sich die Bevölkerungsstruktur des ehemals jüngsten Bundeslandes aufgrund der selektiven Migration innerhalb eines Vierteljahrhunderts in das älteste umkehrte. Um diesen Verlauf nachzuvollziehen, wurden auf Gemeindeebene die unterschiedlichen Bewegungsentwicklungen ab 1990 dargestellt: Der Rückgang der Sterblichkeit, der Wiederanstieg der Fertilität sowie der sich manifestierende Wanderungsverlust junger Frauen. Daran anschließend zeigten Strukturberechnungen, wie sowohl das Billeter-Maß als auch Geschlechterproportionen, die umfassenden Auswirkungen der Bewegungen auf den Bevölkerungsstand und dessen Struktur Mecklenburg-Vorpommerns: Einen stetigen Rückgang der Bevölkerungszahlen, ein über-proportionales Frauendefizit in jüngeren Altersjahren und eine fortlaufend beschleunigte Alterung der Bevölkerung.
Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen wurde für die Zeiträume 1990-2001 und 2002-2013 jeweils eine Clusteranalyse durchgeführt, die als Ergebnis eine Typisierung von Gemeinden hinsichtlich einer messbaren Residualbevölkerung ermöglichten. Entsprechend der Vordefinition eines solchen migrationellen Konstruktes konnte für etwa jede fünfte Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern solcherart demographische Bedingungen identifiziert werden. Diese Gemeinden liegen tendenziell im Binnenland und fern der Zentren – eine zentrale Verortung konnte nicht festgestellt werden. Von Gemeinde zu Gemeinde unterschieden sich die demographischen Parameter teils stark, so dass von einflussreichen lokalen (nicht betrachteten) Rahmenbedingungen ausgegangen werden muss.
Dagegen konnten auch Gemeinden ohne residuale Züge identifiziert werden. Etwa jede dritte Gemeinde Mecklenburg-Vorpommerns wies keine Parameter einer Residualbevölkerung auf. Diese Regionen waren vor allem in der Nähe der Zentren und der Küste zu finden. Die verbliebenen Gemeinden zeigten nur kurzfristig oder nur im geringfügigem Maße Indizien für eine solche Bevölkerung – das betraf etwa die Hälfte aller Gemeinden im Land.
Nach der gesamtgemeindlichen Analyse wurde die Bevölkerungs- und Sozialstruktur der dabei betroffenen Gemeinden Strasburg (Um.) im Landkreis Vorpommern-Greifswald und Dargun im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte detailliert analysiert. Die Bevölkerungsentwicklung beider Betrachtungsgemeinden entsprach der vieler ostdeutscher Kleinstädte im ländlichen Raum nach der politischen Wende: Während die Gemeinden in der DDR Bevölkerungswachstum erfuhren oder zumindest gleichbleibende Bevölkerungszahlen als regionales Zentrum aufwiesen, verursachte die Abwanderung vor allem junger Menschen und ein manifestierter Sterbeüberschuss nach 1990 stetig rückläufige Zahlen.
In diesen beiden Gemeinden wurden dann nicht gesamtgemeindliche Bevölkerungszahlen analysiert, sondern vielmehr die Zusammensetzung einer Gemeindebevölkerung vor dem Hintergrund ihres Migrationsstatus differenziert. Für den Zeitraum 1979-2014 wurden deshalb anhand dieses Status die Bevölkerungen beider Gemeinden in Sesshafte und Zugezogene unterteilt. Aufgrund der sowohl vorhandenen Sterbe- als auch Geburtsstatistik war es möglich, die natürliche und räumliche Bevölkerungsbewegung der insgesamt fast 22.000 Men-schen direkt herauszuarbeiten. Die sesshafte Bevölkerung repräsentiert dabei die Menschen, die am ehesten dem Typus „Residualbevölkerung“ entsprechen.
Nach Berechnung der Mortalitäten für unterschiedliche Zeiträume ergab sich tendenziell eine höhere Sterblichkeit bzw. geringere Lebenserwartung der Sesshaften gegenüber den Zuzüglern bei Frauen wie Männern. Wurden darüber hinaus die Zugezogenen nach Lebensdauer in den Betrachtungsgemeinden differenziert, ergab bei beiden Geschlechtern eine längere Zugehörigkeit zu den Gemeinden auch eine höhere Sterblichkeit. Damit wurde einerseits die generell höhere Mortalität des ländlich-peripheren Raums gegenüber dem urbanen Raum bestätigt. Andererseits entspricht die höhere Sterblichkeit der sesshaften gegenüber der der nichtsesshaften Bevölkerung den Vorüberlegungen zur Residualbevölkerung.
Darüber hinaus wurde zusätzlich der Parameter „Bedürftigkeit“ berücksichtigt. Hier konnte erwartungsgemäß für beide Betrachtungsgemeinden die höchste Sterblichkeit der von Sozial-leistungen betroffenen Menschen festgestellt werden. Je länger dabei die Bezugsdauer, umso höher war die aufgezeigte Mortalität – dies sogar zumeist vor der sesshaften Bevölkerung. Bezieher von Sozialhilfe waren im Vergleich zu Beziehern von Wohngeld am stärksten betroffen; Unterschiede bei Männern besonders stark vertreten. Die Nichtbezieher wiesen bei beiden Geschlechtern die geringste Sterblichkeit auf.
Neben der Mortalität wurde als zweite Variable der natürlichen Bevölkerungsbewegung die Fertilität der beiden Bevölkerungsgruppen untersucht. Hier ergaben sich jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Bevölkerungsgruppen
Im Bereich der Periodenfertilität wiesen Zuzügler gegenüber den Sesshaften eine erhöhte Fertilität auf. Berechnungen der Kohortenfertilität ergaben wiederrum eine leicht höhere Fertilität der Sesshaften. Auch eine detaillierte Analyse der Zuzüglerinnen offenbarte kein einheitliches Bild. Mit Blick auf die Bedürftigkeit war festzustellen, dass die Bezieherinnen eine deutlich höhere Fertilität gegenüber Nichtbezieherinnen – unabhängig von der Bezugsdauer – aufwiesen. Im Ergebnis wurde damit zwar die generell höhere Fertilität des ländlich-peripheren Raums gegenüber dem urbanen Raum bestätigt. Die entsprechenden Vorüberlegungen zur Fertilität der sesshaften gegenüber der nichtsesshaften Bevölkerung konnten aber nicht eindeutig verifiziert werden.
Die gesamtheitliche Betrachtung der Gemeindeberechnungen zeigte demzufolge ein zweitgeteiltes Bild: Die Ergebnisse der Mortalität bestätigen die Annahmen zur Residualbevölkerung, die Ergebnisse der Fertilität nur in Teilen. Auch wenn die festgestellten Fertilitäts- und Morta-litätsunterschiede ortsbehaftet sind – sei es durch Umwelteinflüsse vor Ort oder die Art der Menschen zu leben: Je länger die Menschen in Regionen mit einem bestimmten Fertilitäts- und Mortalitätsniveau leben, umso stärker passen sie sich diesem an – in beide Richtungen.
Vor dem Hintergrund sowohl der Typisierung aller Gemeinden als auch der beiden Betrach-tungsgemeinden ist zu konstatieren, dass beide Variablen der natürlichen Bevölkerungsbewegung nichtgleichberechtigt nebeneinander zur Erklärung einer Residualbevölkerung fungieren müssen. Unter der Beibehaltung der theoretischen Annahmen ist dementsprechend zukünftig von einer Residualbevölkerung mit Schwerpunkt einer hohen Mortalität einerseits und mit Schwerpunkt einer hohen Fertilität andererseits auszugehen. Das bisher in der Literatur benannte Frauendefizit stellt darüber hinaus nur einen Parameter unter mehreren dar und sollte bei nachfolgenden Betrachtungen nicht als alleiniger Indikator dienen.
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse sowohl aus beiden Gemeinden als auch aus den Clus-teranalysen wurde ein Modell einerseits zur Entstehung der Residualbevölkerung, andererseits zum Wirken der selektiven Migration generell erstellt. In Abhängigkeit von Alter und Geschlecht und unter Voraussetzung einer langfristig konstanten Wanderungsbewegung konnte so der theoretische Einfluss der räumlichen Bevölkerungsbewegung auf die Bevölkerungsstruktur – und damit indirekt auch auf die natürliche Bevölkerungsbewegung – vereinfacht projiziert werden.
Der ostdeutsche ländlich-periphere Raum ist abschließend als Sonderform des ländlich-peripheren Raums einzuordnen. Die hier gezeigte Residualbevölkerung kann als ein Indikator für – den gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Verwerfungen geschuldeten – langfristige Wanderungsverluste eingeordnet werden. Die überproportional ausgeprägte Bedürftigkeit im ländlich-peripheren Raum kann deshalb auch als ein Merkmal der Sesshaftigkeit eingeordnet werden.
Insofern ist die Residualbevölkerung, vor dem Hintergrund der darüber hinaus als perspektivisch ungünstig erachteten Zukunftsaussicht, als Bevölkerungsgruppe eines Raumes abnehmender Entwicklungsstufe zu verstehen. Es ist daher ratsam, einerseits eine Verbesserung der Lebenssituation betroffener Menschen in ländlich-peripheren Räumen zu erwirken und andererseits diesen Herausforderungen raumplanerisch stärkeres Gewicht zu verleihen. Die zukünftige dahingehende Gestaltung ländlich-peripherer Räume in Ostdeutschland bedarf aus Sicht des Autors deshalb mehr an Autarkie sowie flexibler Kreativität.