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Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) und damit einhergehende rechtliche und ethische Konflikte bei der ärztlichen Leichenschau

  • Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) ist als Methode, das Leben selbstbestimmt zu beenden, in informierten Fachkreisen weitgehend bekannt. Aktuelle Forschungsarbeiten betonen das Konfliktpotential der FVNF-Thematik, insbesondere bei der Einordnung des FVNF als Suizid und aller daraus resultierenden Handlungskonsequenzen. Grund dieser aufflammenden Diskussion über die Einordnung des FVNF als Suizid einerseits und als Teil des natürlichen Sterbeprozesses am Lebensende andererseits ist der mittlerweile wieder obsolete Paragraph §217 zur Strafbarkeit der „Geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“. Diese neue Gesetzesreform bedrohte zeitweise medizinisches Personal strafrechtlich, welches FVNF-praktizierende Patienten betreute, indem sie die große Frage offenließ, ob sich diese Begleitung bereits als Suizidbeihilfe oder gar als Tötung auf Verlangen darstellt. Außerdem sorgte der Aufruhr innerhalb der deutschen Gesetzeslage auch in medizinischen Fachkreisen für wachsende Unsicherheit beim Umgang mit dem FVNF. Von ärztlicher Seite wurde hier zunehmend die Qualifizierung der Todesart als natürlich oder nicht-natürlich in der ärztlichen Leichenschau problematisiert. Die hier vorliegende Arbeit mit einer Auswertung von 3548 Todesbescheinigungen des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern hat sich zum Ziel gesetzt, die Relevanz dieser breit thematisierten Konflikte zu beleuchten. Sie soll einerseits dazu beitragen, pragmatische Handlungsweisen für den Umgang mit FVNF-Patienten aufzuzeigen und andererseits praktische Vorschläge für einen rechtssicheren Umgang mit der ärztlichen Leichenschau entwickeln. Die Datenerhebung aus den Todesbescheinigungen erfolgte in dem Zeitraum vom 01.01.2019 – 31.12.2019. Während dieser Zeit konnte bei 244 Verstorbenen (=6,88%) anhand zuvor definierter Kriterien ein Zusammenhang zwischen dem Tod und dem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit hergestellt werden. In der Analyse der Todesbescheinigungen konnte erkannt werden, dass fast alle leichenschauenden Ärzte eine natürliche Todesart festlegten (n=242). In 2 Ausnahmefällen, bei denen eine nicht-natürlichen Todesart ausgewählt wurde, waren jedoch andere Umstände als der FVNF ausschlaggebend. Somit kann man festhalten, dass keiner der Ärzte den FVNF als Suizid und damit als nichtnatürliche Todesart wahrnahm. Weiterhin scheint der Begriff FVNF selbst in der untersuchten Kohorte noch nicht vollumfänglich bekannt oder üblich zu sein. Die Dokumentation des Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit wurde sehr variabel gehandhabt. In keinem der untersuchten Todesbescheinigungen wurde der Terminus „FVNF“ explizit aufgeführt. Vielmehr wurden verschiedenste Umschreibungen in der Epikrise und innerhalb der Todesursachen mithilfe diverser ICD-Codes verwendet. Besonders interessant ist hierbei, dass 178 Patienten (=72,13%) zum Zeitpunkt des FVNF an einer lebenslimitierende Grunderkrankung litten. Nur bei 27,68% (n=68) der Verstorbenen konnte keine schwerwiegende Grunderkrankung ermittelt werden, sondern ausschließlich die Multimorbidität im Alter. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen lag bei 86,3 Jahren und 84,9% (n=207) des Gesamtkollektivs waren mindestens 80 Jahre oder älter. Dies zeigt eindeutig, dass die Thematik des FVNF im Alltag viel mehr die deutlich ältere Generation betrifft, welche sich bereits aufgrund ihrer gesundheitlich reduzierten Konstitution am Ende des Lebens befindet. In der Literatur beschriebene Fälle, bei denen sich jüngere und gesunde Menschen entschieden, ihr Leben deutlich vor Beginn des physiologischen Sterbens durch FVNF zu beenden, kamen in der hier vorliegenden Datenanalyse nicht vor. Daher kann davon ausgegangen werden, dass solche Fälle Einzelerscheinungen darstellen, die auf die Gesamtstatistik nur marginalen Einfluss nehmen. In Anbetracht des hohen Alters der Verstorbenen und des breiten Vorliegens einschränkender Grunderkrankungen muss der in Fachkreisen geäußerten Ansicht des FVNF als Form des Suizids deutlich widersprochen werden. Die in der Einleitung vorgestellte Frage von Alt-Epping et al. (2019, 173), „ob auf dem Totenschein nach FVNF die Angabe ‚natürlicher Tod‘ angemessen ist oder nicht“, ist im Hinblick auf die hier untersuchten Todesbescheinigungen mit Ja zu beantworten. Die überwiegende Mehrheit der leichenschauenden Ärzte gab nicht nur eine natürliche Todesursache an, sondern war auch in den Beschreibungen konsistent mit einer Position, die den FVNF nicht als Suizid betrachtet, sondern als natürlichen Tod. Für eine bessere begriffliche Zuordnung müssen an dieser Stelle dennoch 2 grundlegende Formen des FVNF differenziert werden: Auf der einen Seite steht hier der „implizite/präfinale FVNF“ als natürlicher Vorgang im Zusammenhang mit dem Sterbeprozess, der eher als Begleiterscheinung wahrzunehmen ist und eine physiologische Konsequenz der abnehmenden Lebenskräfte darstellt. Dieser FVFN stellt auch in der vorliegenden Datenerhebung die einzige Form dar. Auf der anderen Seite steht der Sonderfall des expliziten FVNF oder „Sterbefastens“ als Suizid und nichtnatürlicher Tod, ohne dass eine zum Tode führende innere Erkrankung oder Multimorbidität im Alter im Vordergrund steht. Es wäre für den rechtssicheren Umgang mit dem FVNF bei der ärztlichen Leichenschau weiterhin sinnvoll, eine gesonderte ICD-Kodierung oder zumindest genauere Bezeichnungen zu entwickeln, um sowohl eine bessere Dokumentation in der Todesursachenstatistik zu gewährleisten als auch eine Vergleichbarkeit bei Auswertungen von Todesbescheinigungen sicherzustellen. Für ersteren Fall des physiologischen Nahrungs- und/oder Flüssigkeitsverzichts beim Sterben wird empfohlen, auf die ICD-Codes „Symptome und abnorme klinische Laborbefunde - R00-R99“ zurückzugreifen. Die Verschlüsselung mit „Ungenügende Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit - R63.6“ oder mit „(präfinaler/impliziter) FVNF – R63.7“ als neuer ICD-Code kann eine sinnvolle Ergänzung darstellen, um auch statistische Erhebungen zu der Thematik zu verbessern. Der FVNF soll als vorangegangene Ursache (Ib) einer bereits bestehenden lebenslimitierenden Grunderkrankung notiert werden. Für den Fall, dass ein Nahrung- und Flüssigkeitsverzicht als aktiv lebensverkürzende Handlung und somit als Suizid gewertet werden kann, ist eine eigene Codierung für diese Handlungsform hilfreich. Das dann vorliegende Sterbefasten könnte unter die Kategorie „Vorsätzliche Selbstschädigung – X60-X84“ fallen, beispielsweise: „X85 – Vorsätzliche Selbstschädigung durch Nahrungs- und Flüssigkeitsverzicht“. Ergänzende Beschreibungen des Sterbefastens in der Epikrise sind in jedem Fall sinnvoll, um ein schlüssiges Gesamtbild des Sterbeprozesses zu beschreiben. Um qualifizierte medizinische und pflegerische Begleitung den Patientenwünschen entsprechend gewährleisten zu können, kann das rechtzeitige Verfassen einer Patientenverfügung hilfreich sein. Sinnvoll scheint hier auch die Forderung von Manhart et al. (2018), diese Fälle „echter“ FVNF nennen. Die zur Diskussion gestellte Verfahrensweise beinhaltetet das Anberaumen eines primären Ethikkonsils unter Teilnahme der Fachgebiete Palliativmedizin, Psychiatrie, Rechtsmedizin und jenem, entsprechend der Grunderkrankung. Hiermit soll die Prüfung und Bestätigung der freien Willensbildung sowie der Patientenverfügung des Patienten erfolgen, um das spätere Todesermittlungsverfahren zu vereinfachen und damit auch die Belastung der Angehörigen zu mindern. Die Autoren fordern außerdem eine ausführliche Aufklärung des Patienten über Therapiealternativen im Rahmen der Grunderkrankung. In Anbetracht der Tatsache, dass solch ein Fall vermutlich recht selten auftritt, sollte der vergleichsweise hohe Aufwand nicht nur gerechtfertigt, sondern auch möglich sein. Nicht zuletzt durch die überrepräsentierte Altersgruppe von über 80-Jährigen ist es vor allem das Fachpersonal in Alters- und Pflegeheimen, welches mit dem FVNF konfrontiert wird. Auch in der vorliegenden Auswertung ist mit 64,34% (n=157) die Mehrheit der Personen in einer Altenpflegeeinrichtung verstorben. Außerdem konnte man sehen, dass viele Verstorbene am Lebensende, neben zahlreichen Grunderkrankungen, bereits mit deutlichen Lebenseinschränkungen wie verschlechtertem Allgemeinzustand (n=86; 35,25%) oder Immobilität (n=23; 9,43%) konfrontiert waren. Immer wieder stehen Pflegekräfte nun vor der Herausforderung, dass Patienten nicht mehr essen und trinken wollen, um ihr subjektives Leid zu beenden und den Sterbeprozess zu beschleunigen. Auch wenn das Sterben in unserer Gesellschaft zum Teil noch als Tabu-Thema behandelt wird erwarten Experten, dass sich künftig immer mehr Menschen für diese Möglichkeit des vorzeitigen Ablebens entscheiden (Teigeler 2018). Es ist daher notwendig, dass sich Gesundheitseinrichtungen und Fachleute mit diesem Thema befassen und diskutieren, wie das Phänomen in Zukunft bewältigt werden kann. Die Forschung in der Medizin schreitet unaufhaltsam voran und die medizinische Versorgung wird kontinuierlich optimiert. Die Kehrseite dessen ist jedoch, dass es alten Menschen damit auch schwerer gemacht wird, an ihren teilweise schweren Grunderkrankungen zu versterben. Als Forschungsdesiderate bleiben eine verbesserte statistische Erfassung und differenzierte Auswertung vom FVNF allgemein und seinen verschiedenen Ausprägungen. Insbesondere sollte hier auf die Relevanz des „präfinaler/impliziter FVNF“ im Rahmen eines natürlichen Sterbeprozesses und dem FVNF in Form des „expliziten FVNF“ oder „Sterbefasten“ als mögliche Form eines Suizids eingegangen werden. Um diese genauer differenzieren zu können wäre ein Interview der jeweils begleitenden Ärzte eine sinnvolle Ergänzung. Ebenfalls wäre eine genauere Untersuchung des Wissenstands und der Haltung verschiedener Ärzte gegenüber dem FVNF interessant, beispielsweise in Form eines Fragebogens und weiterführender qualitativer Erhebungen. Nicht zuletzt sollte die Auseinandersetzung der Ärzte mit dieser Problematik und der Bezug zur obligatorischen ärztlichen Leichenschau bereits in der akademischen Lehre im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen aufgenommen werden.

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Metadaten
Author: Pauline Frankenberger
URN:urn:nbn:de:gbv:9-opus-87466
Title Additional (German):Voluntary stopping of eating and drinking (VSED) and associated legal and ethical conflicts in the medical inquest
Referee:Prof. Dr. Maik Gollasch, Prof. Dr. Jean-François Chenot, Prof. Dr. Britta Bockholdt
Advisor:Prof. Dr. Bockholdt Britta
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Year of Completion:2022
Date of first Publication:2023/07/27
Granting Institution:Universität Greifswald, Universitätsmedizin
Date of final exam:2023/07/20
Release Date:2023/07/27
Tag:FVNF; Palliativmedizin
VSED
GND Keyword:Leichenschau, Palliative Medizin, Palliativmedizin, Totenschein, Todesbescheinigung
Page Number:105
Faculties:Universitätsmedizin / Institut für Rechtsmedizin
DDC class:600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften / 610 Medizin und Gesundheit