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Kenntnisse über die Morphologie des Canalis infraorbitalis beim Menschen sind von großer klinischer Bedeutung. Daher sind Vermessungen des Kanals bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Das Studium der zugänglichen Weltliteratur zeigt jedoch, dass sich die meisten Studien zu dieser Thematik nicht mit dem Canalis infraorbitalis selbst, sondern vielmehr mit dem Foramen infraorbitale und seiner Lokalisation an der Facies anterior der Maxilla befasst haben. Abgesehen von Beschreibungen in verschiedenen Textbüchern der Anatomie, gibt es nur wenige Studien, welche sich mit der Variabilität des Canalis infraorbitalis und den Faktoren beschäftigt haben, die die Verlaufsrichtung des Canalis infraorbitalis beim Menschen beeinflussen. In der vorliegenden Arbeit werden daher unter Berücksichtigung von Populationsunterschieden mögliche Faktoren untersucht, die einen Einfluss auf den Verlauf des Canalis infraorbitalis beim Menschen besitzen. Dabei beschäftigt sich die Arbeit insbesondere mit der morphologischen Beziehung zwischen dem Canalis infraorbitalis und anatomischen Nachbarstrukturen wie Orbita und Sinus maxillaris, sowie externen Schädelmaßen.
Die biometrische Untersuchung des Canalis infraorbitalis erfolgte anhand von CT – Schichtaufnahmen von 65 adulten Schädeln dreier zeitlich und geografisch voneinander getrennten Populationen. Dabei handelte es sich um zwei archäologische Populationen aus Litauen und Jena sowie um eine rezente Population aus Kyoto. Zur Beurteilung der Lage des Canalis infraorbitalis wurden ausgehend vom orbitalen Eingang und fazialen Ausgang des Kanals Abstände zur Mediansagittalebene und dem Margo orbitalis inferior gemessen. Darüber hinaus wurde die projektivische Länge des Kanals im Sagittal -, Transversal – und Frontalschnitt ermittelt. Die Vermessung des Kanals erfolgte mittels der Software RadiAnt DICOM Viewer Vers. 4.6.9 (Medixant, 2011). Um die Ausrichtung des Canalis infraorbitalis zu verdeutlichen, wurde zwischen den projektivischen Längenmaßen und den verschiedenen Ebenen eine Winkelmessung mittels ImageJ Vers. 152 a (Wayne Rasband, NIH, 2018) durchgeführt. Anhand der Verlaufsrichtung im Frontalschnitt wurde schließlich eine Typisierung des Canalis infraorbitalis vorgenommen. Um die Beziehungen des Kanals zu anatomischen Nachbarstrukturen zu untersuchen und eine Einordnung in den Gesichtsschädel vornehmen zu können, erfolgte die Vermessung externer Schädelmaße sowie der Volumina von Orbita und Sinus maxillaris.
Für die erhobenen Messwerte wurde unter Berücksichtigung der Populationen zunächst eine deskriptive Statistik erstellt. Anschließend erfolgte die Untersuchung der Daten auf mögliche Populationsunterschiede mithilfe des Kruskal-Wallis-Test und des Mann-Whitney-Test. Um mögliche Merkmalszusammenhänge zu überprüfen, wurden außerdem Rangkorrelations – und Regressionsanalysen durchgeführt.
Bezüglich der Länge und der Ausrichtung des Canalis infraorbitalis konnten Unterschiede zwischen den Populationen herausgearbeitet werden. Signifikante Populationsunterschiede zeigten sich insbesondere in Bezug auf die Höhenmaße des Kanals, also der vertikalen Abstände seiner fazialen Öffnung zum Margo orbitalis inferior. Dabei wies die Population aus Kyoto im Vergleich zu den Populationen aus Litauen und Jena signifikant kleinere Werte für den Abstand zwischen dem fazialen Ausgang des Canalis infraorbitalis und dem Margo orbitalis inferior auf. Obgleich sich über alle Populationen hinweg signifikante Zusammenhänge zwischen externen Schädelmaßen und den Maßen des Canalis infraorbitalis nachweisen ließen, konnten diesbezüglich auch Populationsunterschiede herausgearbeitet werden. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Schädelgrößen der untersuchten Populationen, konnte gezeigt werden, dass die Population aus Kyoto die größten Werte für die projektivischen Kanallängen aufwies. Dies deutet darauf hin, dass neben der Schädelgröße auch andere Faktoren Einfluss auf den Canalis infraorbitalis besitzen. Anhand von Korrelationsanalysen konnte festgestellt werden, dass auch die Größe der Orbita und des Sinus maxillaris einen signifikanten Einfluss auf die Morphologie des Canalis infraorbitalis haben.
Unter Berücksichtigung aller Populationen konnte eine Einteilung des Canalis infraorbitalis in zwei Typen vorgenommen werden. Dabei verlief der Kanal im Frontalschnitt entweder von kraniolateral nach kaudomedial (Typ 1), oder von kraniomedial nach kaudolateral (Typ 2). Typ 1 trat dabei mit einer Häufigkeit von 76, 6% auf, während Typ 2 nur in 23,4% der Fälle beobachtet werden konnte. Darüber hinaus wurde überprüft, ob die Größenbeziehungen von Orbita und Sinus maxillaris einen Einfluss auf die Verlaufsrichtung des Kanals besitzen. Mithilfe eines dafür erstellten Indexes, der das Größenverhältnis von Sinus maxillaris und Orbita zueinander beschreibt, ließ sich dies jedoch nicht nachweisen.
Die vorliegende Arbeit liefert detaillierte Angaben zu Ausrichtung, Länge und Verlauf des Canalis infraorbitalis beim Menschen. Unter Berücksichtigung aller Ergebnisse dieser Studie, unterliegt die Morphologie des Canalis infraorbitalis dem Einfluss verschiedener Faktoren. Neben der Schädelgröße, der Größe von Orbita und Sinus maxillaris können auch epigenetische Faktoren wie Klima oder Nutrition einen Einfluss auf die Kanalmorphologie besitzen. Diese Arbeit kann dabei als Grundlage dienen, um diesen Einfluss in künftigen Populationsstudien zu verifizieren. Solche Kenntnisse können schließlich auch für verschiedene klinische Fachgebiete wie der Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgie, der ophtalmologischen Chirurgie und der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde von Interesse sein.
In der vorliegenden Studie wurden die in einzelnen Kasuistiken berichteten schwerwiegenden Komplikationen, wie die Perforation des Spinalkanals und dadurch hervorgerufenen Verletzungen der intraspinalen Strukturen (Heyll und Ziegenhagen 2000; Schmittinger et al. 2011) im Rahmen der neuraltherapeutischen Injektion der Tonsilla pharyngea aus morphologischer Sicht einer näheren Betrachtung unterzogen. Zu diesem Zweck wurde der mögliche Stichkanal einer Kanüle virtuell anhand computertomographischer Datensätze von insgesamt 53 adulten Schädeln von sieben unterschiedlichen Populationen verschiedener historischer und geographischer Herkunft rekonstruiert. Dabei wurde der Einfluss einer 8 cm langen und nach 4 cm um 140° nach kranial gebogenen Kanüle entsprechend den Vorgaben von Barop (2015) mit einer 8 cm langen, geraden Kanüle in Anlehnung an Dosch (1995) verglichen. Der knöcherne Treffpunkt der Kanülenspitzen im Epipharynx wurde anschließend mittels linearer Streckenmaße metrisch erfasst. Um den Einfluss der Schädelmorphologie auf die Messergebnisse beurteilen zu können, wurden zusätzlich Zusammenhänge zwischen definierten Parametern am Epipharynx und ausgewählten Schädelparametern statistisch geprüft.
Alle Untersuchungen erfolgten an CT-Datensätzen mittels des Programmes Horos v3.3.5 (© 2019 Horos Project). Dazu wurden Längenmessungen und Winkelberechnungen am Schädel vorgenommen sowie Abstände zu definierten Landmarken an Schädelbasis und Epipharynx vermessen. Die Beziehungen zwischen den erhobenen Parametern wurden bei Vorliegen einer Normalverteilung mit Hilfe parametrischer Tests (u. a. einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA)) untersucht.
Die Untersuchungsergebnisse zeigten für alle Schädel und unabhängig der Verwendung einer geraden oder abgewinkelten Kanüle stets einen knöchernen Treffpunkt im Epipharynx. Die Treffpunkte der gebogenen Kanüle lagen stets weiter anterior als jene der gerade Kanüle. Demzufolge ist hinsichtlich des Risikos, den Spinalkanal zu verletzen, die gebogene Kanüle zu favorisieren.
Mögliche statistische Beziehungen zwischen den Schädelparametern mit den Abständen des knöchernen Treffpunktes der Kanülen zum Basion wurden mittels einer Korrelationsanalyse nach Pearson, einer einfachen linearen Regressionsanalyse sowie mit einer multifaktoriellen ANOVA geprüft. Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen signifikante Korrelationen zwischen Epipharynx- und Gesichtslänge. Zudem ließ sich ein tendenzieller Zusammenhang zwischen der mittleren Gesichtshöhe bzw. der Epipharynxhöhe zum Abstand des knöchernen Kanülentreffpunktes und dem höchsten Punkt im Epipharynx nachweisen. Im Ergebnis der statistischen Untersuchungen zeigte sich jedoch auch, dass mögliche Populationsunterschiede keinen Einfluss auf den knöchernen Kanülentreffpunkt im Epipharynx haben.
Mit der vorliegenden Arbeit wurde eine standardisierte Methode vorgestellt, die es ermöglicht, den knöchernen Treffpunkt einer Kanüle an der Schädelbasis zu analysieren und quantitativ zu bestimmen. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten zur Untersuchung der neuraltherapeutischen Injektion an das Rachendach auch unter Berücksichtigung phylogenetischer und populationsbiologischer Aspekte. Derartige Daten sind für die Reduktion schwerwiegender Komplikationen von unmittelbarer klinischer Bedeutung.